„Wenn Schulen aufs Ganze gehen“

Arbeitspsychologische Anmerkungen zu Herausforderungen der Ganztagsschule





von Ulf Kieschke

Dass die Lehrerschaft eine besondere Risikogruppe ist, was gesundheitliche Belastungen und Risiken betrifft, scheint heute kein Geheimnis zu sein. Dass eine gute Organisation von Schule und Lehrerteam dem entgegenwirken kann, ist ebenfalls unbestritten. Gerade die Ganztagsschule bietet dabei Potenziale und Möglichkeiten.

Die Potsdamer Lehrerstudie zu Belastungen im Lehrerberuf Das häufig bemühte Vorurteil, Anstellung im Schuldienst beschere einen bequemen Halbtagsjob bei voller Bezahlung, wird durch neuere Studien auf breiter Front entkräftet. Die Lehrerschaft gilt als eine der belastetsten Berufsgruppen überhaupt. So hat etwa die vielzitierte Potsdamer Lehrerstudie zutage gefördert, dass Burnout-Risiken und Selbstausbeutungstendenzen in kaum einem anderen Tätigkeitsfeld stärker ausgeprägt sind (vgl. Schaarschmidt, 2005; Schaarschmidt & Kieschke, 2007).

Fast jeder dritte Pädagoge leidet dieser Untersuchung zufolge unter Erschöpfungssymptomen und nennenswerten gesundheitlichen Einschränkungen. Derartige Befunde sind nun durchaus nicht als Beleg dafür zu lesen, dass Besonderheiten des Berufsbildes den Übergang in eine Patientenkarriere regelrecht „programmierten“ und unausweichlich machten. Deutlich wird aber allemal, dass Anforderungen der Tätigkeit schnell zu Überforderungen werden können. Das verdankt sich nicht zuletzt der Organisationsform, in der Lehrerarbeit zumeist abläuft. Bekanntlich endet für die wenigsten Kollegen die Arbeit mit dem Verlassen des Schulgebäudes. Viele Aufgaben sind zu Hause und andernorts zu erledigen. Das ausstehende Pensum (Korrekturen; Erstellung von Lehrmaterialien etc.) lässt sich indes nur selten in klar definierten Zeitfenstern und kompakten Arbeitseinheiten verrichten. In der Regel wird die Zeit für berufsbezogene Vorhaben nach dem Unterricht gestückelt, je nachdem, wie es z. B die familiären Verpflichtungen zulassen. Ein Großteil der Arbeit muss in die Abendstunden oder auf die Wochenenden verlagert werden. Dass dies eine klare Grenzziehung zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Be- und Entlastungsphasen erschwert, ist offensichtlich. Die Nichtbeachtung von Erholungsbedürfnissen kann jedoch die Handlungsfähigkeit im Beruf empfindlich beeinträchtigen und negative Konsequenzen für die Gesundheitsentwicklung haben. Auf Dauer ermöglicht erst „Abschalten-Können“ neuerliches „Durchstarten“!

Möglichkeiten der Ganztagsschule

Löst nun die Organisationsform Ganztagsschule das geschilderte Problem? Die Befürworter des Modells unterstreichen zumindest gern, dass es neben pädagogischen Vorteilen Optimierungschancen für den Berufsalltag von Lehrkräften biete. Längere Präsenzzeiten vor Ort eröffneten z. B die Option, den Unterricht zu großen Teilen in der Schule vor- und nachzubereiten. Das sollte den Rest des Tages spürbar entlasten. Es fehlt freilich genauso wenig an eher skeptischen Wortmeldungen. Manche Beobachter befürchten, dass mit der Ganztagsschule der Stress des Vormittags schlicht in den Nachmittag „hineindiffundiere“, der Belastungs-Pegel insgesamt also steige. Befragungen im Rahmen der Potsdamer Lehrerstudie erhärten diesen Verdacht zunächst glücklicherweise kaum (vgl. Schaarschmidt & Kieschke, 2007).

Danach ist das Belastungspotenzial in Ganztagsschulen nicht höher als in klassischen „Halbtagsschulen“, aber eben auch nicht wesentlich geringer. Bei der Einordnung des Befundes hat man allerdings zu bedenken, dass sich hinter dem Etikett „Ganztagsschule“ immer noch recht Heterogenes verbirgt. Die Zahl der gestalterischen Varianten ist hier weiterhin groß. Nicht wenige Schulen bleiben deutlich hinter den Standards zurück, die nach arbeitspsychologischem Verständnis zu einer merklichen Entspannung der Berufssituation von Lehrkräften beitragen dürften. Mit einer bloßen Verlängerung der Präsenszeiten in Schulen ist es denn keineswegs getan! Gefordert ist vielmehr eine überlegte und gezielte Neustrukturierung des Arbeitsplatzes über Festlegungen zum zeitlichen Regime hinaus. Besonderes Augenmerk wäre gerade den materiell-organisatorischen Bedingungen zu widmen, unter denen die veränderten Arbeitszeitregelungen greifen sollen. Damit sind zunächst ausreichende und geeignete Arbeitsund Rückzugsräume gemeint, aber auch z. B der PC-Arbeitsplatz mit Internetanschluss für jeden Lehrer und eine bedarfsgerechte Lehrerbibliothek.

Gelingensfaktoren: Soziales Klima und Organisationsentwicklung

Das gute Funktionieren des Ganztagsmodells ist außerdem stark vom sozialen Klima in der Einrichtung abhängig. Mangelt es am vertrauensvollen Miteinander im Kollegium, wird das unter der Bedingung veränderter Präsenzzeiten natürlich besonders massiv auf das Befinden der Lehrkräfte durchschlagen: Erstens dauern die Aufenthalte im „schulischen Konfliktfeld“ jetzt länger; zweitens hat man im Ganztagsbetrieb vermutlich weniger Gelegenheit, den Kollegen auszuweichen. Die Herausforderungen der neuen Organisationsform sind jedoch in gemeinsamer Anstrengung besser zu stemmen als im „entsagungsvollen Alleingang“.

Formen von Kooperation lassen sich aber schwer erproben, wenn man einander mit Vorbehalten und Desinteresse begegnet. Tatsächlich wurde in der Potsdamer Lehrerstudie gezeigt, dass Störungen des Sozialklimas nicht nur das Belastungsgefühl verstärken, sondern daneben offenbar das berufliche Selbstvertrauen beim einzelnen mindern können. Stimmt der Zusammenhalt in der Kollegenschaft hingegen, wird das Modell Ganztagsschule weniger als Beeinträchtigung denn als Herausforderung erlebt, an der man fachlich wachsen kann. Kurzum: Bei der Organisation der Ganztagsschule zählen nicht nur „harte Gestaltungsvariablen“ wie Raumausstattung, Technik-Ausrüstung und Jahresbudget, sondern auch „weiche Variablen“ wie Sozialklima, Schulkultur und Führungsqualität der Schulleitung.

Bei der Einschätzung solcher „weichen Faktoren“ kann im Übrigen ein diagnostisches Instrument behilflich sein, das in der Potsdamer Lehrerforschungs-Gruppe entwickelt wurde: der „Arbeitsbewertungs-Check ür Lehrkräfte“ (ABC-L). Es handelt sich hierbei um ein Fragebogenverfahren, das als organisationsdiagnostisches Instrument gewinnbringend in Schulentwicklungsmaßnahmen eingebunden werden kann. Die zugehörigen Erhebungs- und Auswertungsmaterialien sind mittlerweile online verfügbar (www.abc-l.de). Der ABC-L erlaubt es, Verhältnisse und Umstände schulischer Arbeit vor Ort mit den Gegebenheiten an anderen Schulen desselben Typs zu vergleichen (als Referenzdaten dienen Erhebungsresultate aus 582 Einrichtungen; insgesamt waren 7635 Lehrkräfte an Untersuchungen zur Verfahrenseichung beteiligt).

Der Bogen gibt schulbezogene Auswertungen zu 15 Bereichen der Lehrerarbeit an die Hand (das reicht von den oben erwähnten Faktoren „Klima im Kollegium“, „Schulkultur“ und „Verhalten der Schulleitung“ bis hin zu „hygienischen Bedingungen in der Schule“, „Verhalten der Eltern“ und „Möglichkeiten der Fortund Weiterbildung“). Das wird den Blick für Dinge, die im eigenen Haus gut geregelt sind, ebenso schärfen wie den für Schwierigkeiten und Veränderungsbedarf. Die mit Hilfe des ABC-L geleistete Bestandsaufnahme kann selbstverständlich nur der Anfang sein; sie steckt den Rahmen für Organisationsentwicklungsmaßnahmen ab, ersetzt sie jedoch keineswegs. Eine klare und nachvollziehbare Problemdefinition ist allerdings für alles weitere unverzichtbar und bleibt in jedem Fall der erste Schritt zur Behebung eines Problems.

Eine konstruktive Auseinandersetzung mit den Problemen, die im Arbeitsalltag anfallen, wiese dann Schulen in einem doppelten Sinne als Orte des Lernens aus: als Ort der Wissens- und Kompetenzvermittlung an SchülerInnen und als Stätten des organisationalen Lernens im Umgang mit bildungspolitischen und pädagogischen Herausforderungen, wie sie etwa durch die Ganztagsschul-Idee auf den Plan gerufen werden.

Der Autor, Prof. Dr. phil. Ulf Kieschke, ist Juniorprofessor am Institut für Psychologie der Universität Potsdam Kontakt: kieschke@rz.uni-potsdam.de

Literatur
 

  • Schaarschmidt, U. (Hrsg.) (2005). Halbtagsjobber? Psychische Gesundheit im Lehrerberuf – Analyse eines veränderungsbedürftigen Zustandes. 2. Auflage. Weinheim: Beltz.
  • Schaarschmidt, U. & Kieschke, U. (Hrsg.) (2007). Gerüstet für den Schulalltag. Psychologische Unterstützungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer. Weinheim; Basel: Beltz.