Kongress 2009: Die besondere Qualität von Ganztagsschulen

 

 

Prof. Dr. Jürgen Oelkers

 

Die blosse Verlängerung der Schulzeit kann auch dazu führen, die bestehenden Qualitätsniveaus zu senken, weil einfach nur mehr vom Gleichen geboten wird, ohne neue Qualität hervorzubringen. Nur weil Schulen Ganztagsschulen sind, haben sie noch keine Gewähr, sich positiv zu entwickeln. Entscheidend ist, ob und wenn ja, wie der neue Zeitrahmen zu den Qualitätszielen passt.

Einleitung zum Vortrag auf dem 6. Ganztagsschulkongress am 12. Dezember 2009 im Berliner Congress Center

Kinder, die heute drei, vier oder fünf Jahre alt sind, werden in zehn Jahren Jugendliche sein. Für die Prognose, was auf sie zukommt, lohnt ein Blick in die unmittelbare Vergangenheit. Als die heutigen Dreizehn-, Vierzehn- oder Fünfzehnjährigen Kinder waren, gab es weder You Tube noch Wikipedia, es gab keine Blogs, erst ansatzweise E-Mails, keine SMS-Botschaften und keine Möglichkeit, ohne jeden Aufwand Videos im Internet zu veröffentlichen; man konnte keine Musiktitel auf das eigene Handy laden, mit dem Mobiltelefon keine Fotos aufnehmen und sofort verschicken, die Firma Apple hatte noch nicht den iPod erfunden; die Jugendlichen benutzten seinerzeit den „Walkman“, während heute nicht einmal mehr der Begriff geläufig ist. Vor zehn Jahren konnte man auch nicht, wie heute, global fernsehen, und dies vom eigenen Handy aus.

Signum für Bildung

Vor zehn Jahren gab es keine Kontaktbörsen im Internet, die damaligen Kinder und Jugendlichen konnten sich nicht an anonymen Schulratings beteiligen und sie hatten noch keine Möglichkeit, ihre Lehrmittel im Internet zu suchen, auch weil effektive Suchmaschinen gerade erst entwickelt wurden. Die erste Testversion von „Google“ ging am 7. September 1998 online. Das war vor gerade einmal elf Jahren; heute ist kaum noch eine Nachforschung über welches Thema auch immer ohne das System „Google“ möglich. In Zukunft werden ganze Bibliotheken im Netz zugänglich sein, das Leseverhalten verändert sich durch verlinkte Steuerungen dramatisch, die klassische Briefkultur ist praktisch verschwunden und Bücher sind nur noch begrenzt ein Signum für Bildung.

Es ist zunehmend unklar, was eigentlich ein „Buch“ ist, wenn man es nicht nur lesen, sondern zugleich hören, digital ansehen und elektronisch umblättern kann. Man kann die eigene Bibliothek in gescannter Form in der Tasche tragen, was sich sicher als platzsparend bezeichnen lässt und auch das Verstaubungsproblem löst. Die alte Kultur des ausgestellten und sichtbaren Besitzes von Büchern ist das aber nicht mehr. Diese Kultur hatte auch deswegen Zeit, weil sich das grundlegende Format nicht beschleunigen liess. Nur das Lesetempo unterschied sich, das Buch selbst liess sich nicht bewegen, ausser eben zum Lesen. Heute sind Bücher eigentlich nur noch vorhanden, wenn sie in gescannter Form bei „Google“ auftauchen. Spätestens, wenn man das eigene Buch am Bildschirm liest, weiss man, was das bedeutet.

 

Zur Person

Herr Prof. Dr. Oelkers absolvierte ein Studium der Erziehungswissenschaft, Germanistik und Geschichte an der Universität Hamburg. Er erlangte den Titel des ordentlichen Professors für Allgemeine Pädagogik an der Universität Bern in den Jahren 1987-1999. Seit dem 1. März 1999 ist Prof. Dr. Oelkers ordentlicher Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Historische Bildungsforschung, vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts, Reformpädagogik im internationalen Vergleich, Analytische Erziehungsphilosophie, Inhaltsanalysen öffentlicher Bildung und Bildungspolitik.

Datum: 16.01.2010
© www.ganztaegig-lernen.de