Endstation Wedding? – Von wegen!

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Die Erika-Mann-Grundschule in Berlin

Denn Karin Babbe hat Visionen, die nicht bloß Träume bleiben sollen. Ganz handfest wollen die zielstrebige Schulleiterin der Erika-Mann-Grundschule und ihr Kollegium in Berlin gute Schule machen, effektiv Lernstrategien weiter entwickeln und neue Bildungskonzepte umsetzen. Dass dies in den 14 Jahren seit der Schulgründung gelungen ist, mag sicher an einem großen Arbeitseinsatz und echter Freude am Lehrerberuf liegen. Doch was diese Schule tatsächlich so ganz besonders und herausragend macht, sind die Fässer von Herzblut, die in jeder Mauerpore des denkmalgeschützten Gebäudes zu stecken scheinen.

Im deutschen Bildungswesen gehört die Erika-Mann-Grundschule zu den innovativsten Einrichtungen. „Schulen entwickeln sich eben schneller als andere, wenn sie mit dem Rücken zur Wand stehen,“ sagt Karin Babbe. Sie jammert nicht, sie stellt fest. An traurigen Entwicklungs-Beschleunigern hat der raue Kiez rund um ihre Schule viel zu bieten. Die Erika-Mann-Grundschule befindet sich in der Utrechter Straße im Berliner Bezirk Wedding, Ramschläden und Billigdiscouter säumen den Weg bis zum unweit gelegenen Leopoldplatz. Kronkorken und Glasscherben liegen auf dem Pflaster, manch einer, dem das Schicksal übel mitgespielt hat, sitzt auf den aufgestellten Bänken.

Ein Arbeiterviertel, dem die Arbeit abhanden gekommen ist. Ein sozialer Brennpunkt und ein so genannter Problemkiez. 84 Prozent der Eltern der Kinder, die zur Erika-Mann-Grundschule gehen, beziehen Transfermittel wie Arbeitslosengeld oder Hartz IV. Derzeit liegt der Anteil der Schüler mit Migrationshintergrund bei 82 Prozent, in vielen Elternhäusern beherrscht niemand die deutsche Sprache. Der Wedding hat viele soziale Bürden, die er den Kindern jeden Morgen auf die Schultern lädt. Und dennoch: Jedes Jahr erbringen siebzig bis achtzig Prozent der Sechst-Klässler der Erika-Mann-Grundschule Leistungen, mit denen sie sich für den Besuch der Realschule oder des Gymnasiums empfehlen – eine Traumquote, mitten in der Unterschicht, bundesweit. Wie schafft man das?

Unterschiede, und zwar möglichst viele

Als Karin Babbe und ihr Team 1996 in die ehemalige Knaben- und Mädchenschule aus dem Jahr 1914 einzogen, bestand ein Grundkonsens über die Leitziele und die zukünftige konzeptionelle Arbeit: „Wir nehmen den Kiez so an, wie er ist – wir sind eine am Gemeinwesen orientierte Schule,“ erklärt die Schulleiterin: „Das ist zugleich auch die Basis unseres Integrationsverständnisses. Wir sind überzeugt: Jedes Kind ist einmalig, jedes Kind ist ein Reichtum – es ist eine Bereicherung für die anderen.“

589 Kinder aus 23 Nationen besuchen die Erika-Mann-Grundschule, etwa jedes zehnte davon bedarf spezieller Förderung, weil es emotional gestört ist oder körperliche, geistige oder Lernbehinderungen mitbringt. „Wir betrachten diese Vielfalt als einen großen Schatz,“ betont Karin Babbe: „Bei uns geht alles zusammen. Jeder ist unterschiedlich, das ist bei uns ganz normal.“

Normal ist hier vor allem: Jeder besitzt das Recht, sich genau so entwickeln zu können, wie er es braucht, um sich und sein Können bestmöglich zu entfalten: Ein wesentlicher Grundsatz vom Konzept des binnendifferenzierten Lernens. In der Erika-Mann-Grundschule gehören dazu individuelle Lernpläne, Arbeiten in Lerngruppen und die Betreuung durch mehrere Pädagogen oder Erzieher pro Klasse. Die Jahrgänge der Stufen eins und zwei werden, wie es an allen Berliner Grundschulen üblich ist, gemeinsam unterrichtet. „Wir überlegen, diese Zusammenlegung des Unterrichts auf die dritten Klassen zu erweitern und die Binnendifferenziertheit auf die Spitze zu treiben,“ berichtet Karin Babbe von ihren Plänen. „Denn das vergrößert die Heterogenität unter den Schülern. Je mehr Unterschiede es zwischen den Kindern gibt, desto größer gestalten sich die Chancen, die sich aus konstruktivistischen Lerntheorien erschließen.“ Auf den Punkt gebracht heißt das: Kinder sind unterschiedlich, auch in ihren Stärken und Schwächen. Mit der richtigen Förderung entsteht daraus beim gemeinsamen Lernen ein gebündeltes Potential, das für jeden einzelnen äußerst kraftvoll ist.

Jeder lernt nach seinen individuellen Möglichkeiten

„Was im Unterricht passiert, nutzt die Erkenntnisse über das Funktionieren des Gehirns und entspricht dem aktuellen Stand der Kognitionswissenschaft,“ stellt Elternsprecherin Arlete von Kries fest, die auf dem Gebiet der Neuropsychologie arbeitet und deren Tochter hier zur Schule gehen. Der Weg von der Theorie in den Schulalltag führt über die Kenntnis von Lerntheorien und über Kreativität bei ihrer Realisierung – also über das, was Karin Babbe schlicht das Handwerkzeug der Pädagogen nennt.

Die Forscherhefte, die im Sachunterricht der ersten und zweiten Klassen entstehen, sind ein buntes Beispiel für derart pädagogisches Werkzeug. Sie dokumentieren die Experimente, mit denen die Schüler jede Woche die Welt erkunden, und sie sind zugleich Exempel einer Form der inneren Differenzierung und des selbst bestimmten Lernens: Lena und Gül haben die Schuppen eines Fisches mit der Lupe untersucht und ihre Erkenntnisse protokolliert. Obwohl sie in derselben Lerngruppe arbeiten, finden sich in ihren Heften je nach den individuellen Fähigkeiten der Mädchen unterschiedliche Dinge. Denn jedes Kind bekommt das zu lernen, was ihm möglich ist. Lena kann noch nicht lesen, aber sie kann die Aufgabenstellung durch eine Symbolik erfassen und die Fischhaut aufmalen. Gül ist ein Jahr älter und kennt die Buchstaben. Sie findet im Heft einen Lesetext und darin den Auftrag, genau jenen Fisch rot auszumalen, der zwischen zwei anderen schwimmt. Indem Gül mit der richtigen Farbe das mittlere Tier kennzeichnet, zeigt sie ihr Leseverständnis – ein Vortragen ist für eine Einschätzung durch den Lehrer gar nicht mehr nötig.

Warum ist der Himmel blau? Wie kommt die Perle in die Muschel? Können Fische unter Wasser atmen? – Fragen, die Kinder bewegen, egal, ob sie nun in Shanghai, in Madrid oder Berlin wohnen, gleichgültig, ob ihre Eltern gut verdienen oder sich um die nächste Mietzahlung sorgen müssen. Differenzierte Aufgabenstellungen holen die Kinder bei genau ihrer altersgemäßen Neugierde ab. Beim Thema Wasser taucht die Frage auf, wie eigentlich Regen entsteht. Durch himmlische Tropfenmacher oder weil durstige Wolken am Fluß getrunken haben? Hypothesen sind der erste Schritt, der Versuch mit Kochtopf, Eiswürfelbeutel und Lampensonne, die der Hausmeister rasch ausleiht, zeigt die Bestätigung der Annahme oder verwirft sie. Weiter geht’s mit dem Wissen: Der selbst erzeugte Regen im Klassenraum fällt in eine Schüssel. Und in der können Papierschiffe fahren. Sie sinken, wenn sie mit 93 Büroklammern oder aber mit 24 Legosteinen beladen werden und liefern so Erklärungen für mathematische Begriffe wie Maß und Gewicht – solch vorfachlicher Unterricht gehört für die Klassenstufen 1 bis 4 zur Lernphilosophie der Erika-Mann-Grundschule.

Rhythmisierung und selbst bestimmtes Lernen

Statt eines Stundenplans, der Deutsch und danach Mathe in 45-Minuten-Einheiten diktiert, werden hier alle Fächer miteinander vernetzt und die sonst üblichen Zeitvorschriften aufgehoben. „Die Idee, Menschen könnten im Dreiviertel-Stunden-Takt am besten lernen, stammt noch von dem Drill der Kadetten in der Kaiserzeit,“ berichtet Karin Babbe. Alte Traditionen, deren Gültigkeit längst nicht mehr unantastbar ist. Das heute oft diskutierte Modell des rhythmisierten Lernens orientiert sich an am inneren Rhythmus der Kinder und nicht an streng einheitlichen Zeitplänen. Als offene Ganztagsschule, die eine Betreuung von 6 bis 18 Uhr bietet, wechseln sich meist Unterrichtsblöcke von 80 oder 120 Minuten mit 40minütigen Pausen ab.

Variationen sind immer möglich, Varianten der Pausengestaltung großartig. „Ich gehe am liebsten in die Werkstatt,“ sagt Jasmin, die die 6c besucht. Melina, 8 Jahre alt, spielt in den 80 Minuten Mittagsband lieber im Puzzleclub. Und dann gibt es da noch die Möglichkeit, Ballett zu tanzen, in die Bücherei zu gehen, Musikinstrumente ausprobieren, den Computerraum zu nutzen, in der Turnhalle oder in der Rappelkiste zu toben, sich im Chillroom auszuruhen – eine Aufzählung, die längst nicht vollständig ist, aber die Modelle der offenen Pause und des selbst bestimmten Lernens illustriert, die sich eben nicht nur auf die Lehrstunden, sondern auch auf die unterrichtsfreie Zeit erstrecken.

Sybille Zackfeld holt gerade ihre Tochter von der Schule ab: „Kira geht in die erste Klasse und kommt auf jeden Fall sehr gerne hierher,“ erzählt sie: „Ich bin Lehrerin am Gymnasium und absolut davon beeindruckt, wie motiviert die Kinder hier lernen, wie individuell der Unterricht gestaltet ist. Das kenne ich sonst nicht. Aber am besten gefällt mir, dass es eine Schule für alle ist, in der jeder gleich willkommen ist und wirklich alles dafür getan wird, dass sich auch alle hier wohl fühlen.“

Eine freundliche Drachenhöhle als Lernort

Wenn jedes Kind nach seinem Niveau lernen soll, dann erfordert das viel Platz für differenzierte Lerngruppen. Die Flure im Schulgebäude haben die Kinder längst als Lern-, Lebens- und Beziehungsraum erobert. Seit sechs Jahren schleicht hier auch noch jemand anderes durch die Gänge: Ein Silberdrachen. Nach den Ideen der Kinder entwarfen die „Baupiloten“ - Architekturstudenten der Technischen Universität Berlin – Modelle, die eine Phantasie-Geschichte architektonisch darstellen. Im Erdgeschoß kann der Silberdrache „sternenstaubtauchen“, ein Stockwerk höher sich unter rosafarbenen Licht ausruhen, an anderer Stelle weht mit „HauchSanftSein“ silberne Gaze von der Decke. Sie bewegt sich, sobald der Drache vorbeifliegt. Das Tier hinterlässt freundliche Spuren. Wenn es da war, präsentiert sich zum Beispiel eine violette Sitzlandschaft. Eine von vielen Nischen, die geradezu zum Lernen einladen. Manchmal streicht das Tier mit seinen Flügeln die Saiten im Treppenhaus und bringt Töne in den hellen Räumen zum Klingen. Oder es setzt sich in den Schnaubgarten, um auf dem Drachenhochsitz CDs zu hören. Kunstvoll gestaltete Räume, die der Entspannung während der Pausen oder in der Projekt- bzw. Hortzeit dienen, die aber auch für Lerngruppen in den Unterrichtsphasen genutzt werden können .

Kunst als universelle Sprache

„An dieser Schule wird sehr viel Wert auf Ästhetik gelegt,“ berichtet Simone Orb, freie Künstlerin und Theaterpädagogin mit Lehrauftrag an der Weddinger Schule: „Wir versuchen, die Kinder über die Kunst zu erreichen.“ Ein Ansatz, mit dem das Kollegium auf das reagiert, was die Fachwelt „doppelte Halbsprachigkeit“ nennt. Sprachprobleme, die unter anderem das Erlernen von Fremdsprachen extrem erschweren. „Es geht uns immer darum, dass die Kinder die Sprache begreifen, sie anfassen. Wenn wir den Buchstaben K behandeln, dann bekleben wir mit Kleister Kugeln und Kerzen, lesen Texte, in denen es um Krach oder Kohlrabi geht und backen auch mal Kekse“, erläutert die Schulleiterin: „Kunst ist eine universelle Sprache, egal ob sie Musik, Malerei, Literatur oder alle anderen Bereiche des ästhetischen Fächerkanons nehmen. Universell – das passt so gut zu uns.“

An der Erika-Mann-Grundschule spielt in Sachen Kunst Theater die größte Rolle und steht im Scheinwerferlicht der Schulentwicklung. Von der ersten bis zur sechsten Klasse sind zwei Stunden Theaterunterricht fest im wöchentlichen Stundenplan integriert. Der theaterpädagogische Ansatz, mit dem die Schule arbeitet, ist die Improvisation. Was auf die Bühne kommt, sind die Ideen der Kinder. Sie schreiben ihre Stücke selbst, vorgegeben ist nur das Jahresthema. Und das bestimmt das Schülerparlament ganz demokratisch, es heißt diesmal „Traumzauberei“.

Jedes Kind hat bei den Aufführungen seinen Auftritt. „Das Gefühl, wichtig für das Gelingen des Ganzen zu sein, gibt den Schülern unglaublich Wind unter die Flügel und ist so enorm wichtig für die Selbstkompetenz,“ begründet Karin Babbe die Einbindung von allen Schülern ins Geschehen auf der Bühne.
Wie in den letzten Jahren und in Kooperation mit dem Theater „Schaubude Berlin“ in Prenzlauer Berg kommen die Stücke im Sommer während eines Theaterfestivals zur Aufführung.

Noten erst ab Klasse fünf

Diese Theater-Woche ist allerdings nicht die einzige Zeit im Jahr, in dem die Eltern dazu aufgefordert werden, sich mit dem Tun und den Leistungen ihrer Kinder zu beschäftigen. An der Erika-Mann-Grundschule bekommen die Schüler erst ab der fünften Klasse Noten. In den vier Jahren zuvor erhalten die Kinder halbjährlich verbale Beurteilungen, die auf einer Selbsteinschätzung von Schülern und Eltern und der Auswertung durch die Lehrer beruhen. Das Wichtigste aber ist das anschließende Eltern-Kind-Lehrer-Gespräch, bei der die Protokolle, die Ergebnisse, Wünsche und Empfindungen besprochen werden. Erstaunliche 95 Prozent der Eltern kann die Erika-Mann-Grundschule so erreichen – „wir haben die Eltern mit ins Boot der Bildung geholt,“ ist Karin Babbe stolz.

Gemeinsam mit ihrem Kollegium möchte sie für ihre Kinder ein tragendes Bildungsfundament legen, und ist überzeugt: Nur über die Bildung können die Kinder dieser Schule die Sozialspirale durchbrechen, Selbstbewusstsein und Sicherheit zu entwickeln. Bei Kimball ist dazu der erste Schritt getan. „Die Leistungen des Jungen dümpelten ganz schön vor sich hin, aber Kimball hat sich im Kampf mit dieser fürchterlichen deutschen Grammatik nicht geschlagen gegeben. Gestern kam er des Wegs und strahlte wie ein Honigkuchenpferd.“ In den Augenwinkeln der resoluten und pragmatischen Schulleiterin glitzert es verdächtig: „Kimball hat tatsächlich eine Realschulempfehlung geschafft!“ Eins ist sicher: Momente der Rührung sind mehr als erlaubt – eine gehörige Portion Stolz auf ihre Arbeit dürfen für Karin Babbe und ihr Team unbedingt dazu kommen.

 

Autorin: Britta Kuntoff

Datum:
14.1.2010

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