Kongress 2009: Woran erkennt man die Qualität einer Ganztagsschule?

Prof. Dr. Otto Seydel im Vortrag auf dem Ganztagsschulkongress 2009

Ich möchte mit einem Vergleich beginnen: Woran messen Sie die Qualität eines guten Essens? An den angegebenen Preisen? An seinem Kalorienwert? Am Gehalt des Kochs? An der Häufigkeit seiner Bestellungen? An der Temperatur beim Anrichten? Das alles können Sie zählen, mit Faktoren gewichten und am Ende für ein Ranking in die Exceltabelle gießen. Ob das Essen gut schmeckt, wissen Sie und Ihre Tischgenossen dadurch noch lange nicht.

Ein guter Koch ist ein Künstler. Die Qualität eines guten Essens, eines Musikstücks, einer Theateraufführung lässt sich nicht „messen“. Die Qualität eines Kunstwerks erfasst der erfahrene Zuschauer, Zuhörer (oder eben Esser) zunächst und vor allem durch Intuition, durch die gefühlsmäßige, nicht analytische Zusammenschau aller Teilelemente des Werkes, die sich in seinem Kopf (oder Bauch) zu einem für ihn persönlich bedeutungsvollen und einmaligen Ganzen fügen. Dieser Prozess ist nicht quantifizierbar. Abrechenbare Standards für Künstler festzulegen, wäre das Ende der Kunst.

Schulen sind Kunstwerke

Meine erste These lautet: Auch Schulen sind – wenn sie gelingen – Kunstwerke! Eher Musikaufführungen oder einem genussreichen Essen vergleichbar als Bildern oder Statuen. Die bloße Rezeptkenntnis macht noch keinen Meisterkoch. Alle Versuche der pädagogischen Forschung der vergangenen Jahre, „den“ guten Unterricht, „den“ guten Lehrer, „die“ gute Schule mit den strengen empirischen Methoden zu fassen, hatten irritierende Ergebnisse. Es gibt offensichtlich für sehr unterschiedliche Konstellationen sehr unterschiedlicher Gelingensbedingungen. Jede noch so aufwendige „Kalibrierung“ der Punktevergabe bleibt immer nur eine Annährung. Jedes vermeintlich „objektive“ Kriterium für die Beurteilung einer Schule lässt unvermeidliche subjektive Interpretationsspielräume.

Ich persönlich vertraue zunächst nur zwei Negativstandards, die allerdings bei den Schulforschern selten vorkommen: Wenn einem Lehrer sein Schüler im Grunde seines Herzen gleichgültig ist (oder er ihn gar verachtet) und wenn ein Lehrer seinen Schüler dauerhaft langweilt, weil ihm der Gegenstand seines Unterrichts letztlich selbst egal ist, weil er seine Schüler permanent über- oder unterfordert – dann kann Schule nicht gelingen! Schulen sind Kunstwerke. Oder vorsichtiger formuliert: Schulen müssen betrachtet werden, wie Kunstwerke.

  • Ein Kunstwerk ist einmalig. Es ist nie vollständig reproduzierbar. Für die Schule gilt: Jedes Kind ist einmalig, jeder Lehrer durchlebt seine persönliche Geschichte.
  • Ein Kunstwerk ist flüchtig im zeitlichen Verlauf. – Unterricht, Schulleben bleiben nie „stehen“!
  • Ein Kunstwerk ist störempfindlich. Ein falscher Ton, eine Prise zu viel kann alles verderben. – Das Beziehungsklima in einer Klasse, die Identifikation der Beteiligten mit „ihrer“ Schule kann plötzlich „kippen“, unvorhersehbar wie der genaue Zeitpunkt des Umschlags in dem ökologischen System eines Teichs.
  • Ein Kunstwerk ist in seiner Wirkung subjektiv. – Die Schule, die für den einen Schüler genau die richtige ist, führt für den anderen vielleicht bis an den Rand einer Katastrophe.
  • Ein Kunstwerk ist in der kreativen Kombination der Gelingensbedingungen letztlich nur eigenen Gesetzen unterworfen. – Guter Unterricht ist in höchsten Maße angewiesen auf die nicht normierbare Authentizität des Lehrers.

An diesem letzten Punkt findet der Vergleich von Schule und Kunst allerdings seine Grenze. Selbst eine sogenannte freie Schule kann im strengen Sinn nie wirklich autonom – sich selbst das eigene Gesetz gebend – sein. Schule wird in unserer Gesellschaft immer im öffentlichen Auftrag gehalten und sie muss immer auch einführen in ein Zusammenleben, dessen Regeln und Normen, geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze nur begrenzt beeinflussbar sind. Gleichwohl bleibt die Feststellung: Die schulische Unterstützung für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, für ihren Bildungsprozess ist die Spitzenleistung nicht so einfach zu ermitteln wie der Sieger eines Hundertmeterlaufs.

Die erste Schlussfolgerung aus diesem Gedankengang ist für unser Unterfangen – es geht immerhin um 100.000 € für den ersten Preisträger des Deutschen Schulpreises – nicht sehr hilfreich, ja sie klingt geradezu kontraproduktiv: „Die“ beste Schule (also auch die beste Ganztagsschule) Deutschlands gibt es nicht. Oder genauer: Die – im strengen Sinn – allerbeste zu bestimmen, ist unmöglich.

Wiederspruch zur Alltagserfahrung

Dies Ergebnis ist unbefriedigend, denn es wiederspricht der Alltagserfahrung. Unstrittig ist ja, dass es – trotz der angedeuteten „Sackgasse“ der Wissenschaft – offensichtlich sehr gute Schulen gibt, in denen Schüler und Lehrer nicht nur gerne arbeiten, sondern Kinder und Jugendlichen in vielerlei Hinsicht – nicht nur in Deutsch, Mathe und Englisch, sondern auch z.B. im Theaterspielen oder Breakdance – zu exzellenten persönlichen Leistungen befähigt werden. Und zwar zu eindeutig besseren Leistungen als in anderen Schulen!

Wie also kommen wir zu geeigneten Kennziffern, die – trotz aller Skrupel – einen ernsthaften Vergleich ermöglichen? In Wirtschaft und Handwerk ist das „Benchmarking“ ein bewährtes Verfahren, der quantitative Vergleich der bestimmenden Faktoren für die Leistungsfähigkeit eines Unternehmens. Am Ende ist es dort ganz einfach, das entscheidende Erfolgskriterium für die Wirkung der unternehmerischen Entscheidungen und des Einsatzes der beteiligten Menschen zu bestimmen: der Gewinn in Euro!

Wie aber bestimme ich den „Gewinn“ einer Schule?

PISA-Daten und Vergleichsarbeiten liefern nützliches Steuerungswissen. Aber sie erfassen nur einen winzigen Ausschnitt der pädagogischen Realität, zumal einer Ganztagsschule..

Genau zählen lässt sich in einer Ganztagsschule Vieles – das niedrigste Prokopfgewicht der Essensabfälle nach dem Mensaessen, die geringsten Kosten für die Wiederherstellung zerstörter Klodeckel, die höchsten Einnahmen nach der Aufführung der Zirkus AG, die meisten Bäume auf dem Außengelände. Ein Qualitätsurteil ergibt die Summe dieser Zahlen nicht.

Standardisierte Beobachtungsbögen, Strichlisten mit säuberlich getesteten Skalenwerten, wie sie in den meisten deutschen Schulinspektionen verwandt werden, können dem Reichtum des Erziehungs- und Unterrichtsgeschehens und – vor allem – ihrer Wirkung nicht gerecht werden.

Ich wiederhole: Warum sind „Gute Schulen“ in der Frage der Messung ihrer Leistungsfähigkeit so viel heikler als Wirtschaftsunternehmen? Die Antwort ist mit der weiteren Präzisierung der Frage nach dem „Gewinn“ zu suchen. Bevor ich die Frage nach dem Verfahren zur Bestimmung des Gewinns stelle, muss ich mich vergewissern, was ich überhaupt unter dem Gewinn einer Schule verstehen will.

Wann war Schule erfolgreich?

Schule war dann erfolgreich (also folgenreich!), wenn sie dazu beigetragen hat, dass ein Schüler

  • immer wieder an seinen Leistungsgrenzen herausgefordert wird und er bereit ist, sich diesen Anforderungen auch außerhalb der Schule zu stellen;
  • in seiner Individualität wirklich ernst genommen wird und dadurch als Person gestärkt aus der Schule kommt;
  • lernt, seine „Welt“, in der er sich bewegt, so zu verstehen, dass er sie nutzen, mit anderen teilen, gestalten und genießen kann;
  • nicht nur sein Gedächtnis trainiert, sondern seine Hände gebrauchen lernt und alle seine Sinne schulte;
  • ein verantwortlich handelnder Bürger in einem demokratischen Gemeinwesen wird;
  • nicht für die Vergangenheit sondern für eine offene unübersichtliche Zukunft lernt.

Wenn Schule in diesem umfassend Sinn bildend wirkt oder bescheidener – zur Bildung beiträgt -, tut sie dieses in einem Zusammenwirken aller beteiligten Menschen – wie in dem einmaligen Zusammenklang eines Kunstwerks.

Das Qualitätsverständnis des Deutschen Schulpreises

Was folgt aus diesen Überlegzungen für das Qualitätsverständnis des Deutschen Schulpreises? Seine sechs Kriterien heißen

  • Leistung – und zwar gerade auch in Kunst, Musik, Theater, Handwerk, Sport.
  • Umgang mit Vielfalt – und zwar ein produktiver Umgang nicht nur mit der Heterogenität der kulturellen Hintergründe, gefragt ist genauso nach der Vielfalt der Interessen und Begabungen sowie nach dem Ausgleich von Benachteiligungen.
  • Unterrichtqualität – gefahndet wird bei diesem Kriterium nicht nach einer bestimmten methodischen Mode (auch Frontalunterricht kann gelegentlich sehr spannend sein!), sondern nach Wegen, gelingt es die Schüler aktiv mit allen Sinnen und auf vielfältige Weise zum Lernen und Arbeiten herauszufordern?
  • Verantwortung – also der achtungsvolle Umgang miteinander genauso wie der sorgsame Umgang mit Sachen im Kleinen wie im Großen, in der Klasse wie in der Schulgemeinde.
  • Schulleben – Feste und Feiern, Rituale und Symbole der Wertschätzung, die die Gemeinschaft aller Akteure der Schule miteinander in Kontakt bringt.
  • Lernende Institution – eine gute Schule kann man nie sein, sondern immer nur werden. Gefragt wird nach professionellen Strukturen, die diesen nie endenden Veränderungsprozess in balancierter Bewegung halten.

Wie findet die Jury des Deutschen Schulpreis heraus, ob eine Schule, diesen Kriterien genügt? Und: Wie müssen diese Kriterien ausgelegt werden, wenn es sich dabei um eine Ganztagsschule handelt?

Die Jury des Deutschen Schulpreises urteilt – wie die Jury eines Literatur- oder Kunstpreises oder wie die Michelin-Sterne-Gutachter – aus der Summe des Erfahrungsschatzes ausgewiesener und möglichst unterschiedlicher Experten. Aus gutem Grund ist die zwölfköpfige Jury zur einen Hälfte mit praxisnahen Wissenschaftlern und zur anderen Hälfte mit reflektierenden Praktikern besetzt. Als gemeinsame Richtschnur dienen die sechs Qualitätsbereiche. Diese sind durch exemplarische Kriterienkonkretisierungen untermauert, aber bewusst ohne eine Auflösung in kleinteilige Items, die einfach nur abgezählt werden.

Basis ihres Urteils ist nicht die Papierlage der Antragsteller, sondern – das ist entscheidend – Basis ist der eigene Augenschein durch ein vierköpfiges Jurorenteam vor Ort über eineinhalb Tage. Die Papierlage würde nicht reichen. Ich selbst habe in meiner Zeit als Schulleiter genügend Bewerbungen für andere Wettbewerbe geschrieben, um zu wissen, welche Worte man auslobergerecht benutzen muss, um die eigene Schulwirklichkeit preiswürdig zu schönen. In meinen Anfängen mussten die Wörter „demokratisches Bewusstsein“ und „ganzheitliches Lernen“ vorkommen, heute lauten die Pflichtbegriffe „Individualisierung“ und „Kompetenz“. Früher musste ich Hartmut von Hentig und Wolfgang Klafki zitieren, heute heißen die Gurus Gerald Hüther, Manfred Spitzer oder Joachim Bauer.Nach einem genauen Studium der Beschreibung der bisherigen Gewinnerschulen des Deutschen Schulpreises könnte heute eine „intelligente“ Bewerberschule sehr schnell herausfinden, was sie schreiben muss, um den Anschein zu erwecken, dass sie den sechs Kriterien genügt.

Oder – um bei der Frage nach der begrenzten Aussagekraft der Aktenlage – noch einmal auf das Thema Essen zurückzukommen. Sie wissen selbst aus „bitterer“ Erfahrung, dass eine blumige Speiskarte keineswegs Garant für eine gute Mahlzeit ist.

Das Verfahren des Deutschen Schulpreises zur Qualitätsbestimmung

Angesichts der großen Bewerberzahl – dieses Jahr sind es 162 Schulen – muss die Jury allerdings doch erst einmal mit den „Speisekarten“ vorlieb nehmen. Ein Kreis von 37 pädagogischen Experten hat im Rahmen einer Vorjurysitzung aus den 162 insgesamt 50 Bewerbungen zur Weitergabe an die Jury ausgewählt. Jetzt (gerade in diesen Tagen) ist Aufgabe der Hauptjury, aus dieser Vorauswahl bis zu 20 Kandidaten zu bestimmen, die anschließend im Januar / Februar 2010 vor Ort durch ein vierköpfiges Team der Jury begutachtet werden.

Kriterien sowohl für die Vorsichtung wie für die Besuche liefern die genannten sechs Qualitätsbereiche. Sie werden jeweils in Beziehung gesetzt zu der besonderen Schulform und der sozialen Lage der Bewerberschule. Die Besonderheiten eines Ganztagsbetriebs sind in der Regel mit zwei elementaren Fragen zu erfassen: den Fragen nach Zeit und Raum.

  • Wie findet die Schule zu einer angemessenen Rhythmisierung? (Oder anders formuliert: Wie weckt die Schule ihre Schüler und ihre Lehrer aus dem Mittagskoma?) Wie legt sie einen angemessenen Wechsel im Tageslauf fest für kognitives Lernen- eigenes Gestalten – sich Bewegen, Spielen und Verweilen,
  • Wie schafft die Schule Räume – und zwar sowohl konkret als architektonisch gestalteter Raum wie in übertragenem Sinn als Handlungsraum – für die aktive Erschließung der musischen, handwerklichen, sportlichen Felder und – genauso wichtig – für Pausen, fürs Nichtstun, fürs bloßes Schwatzen. Mit einem funktionalen Mensaanbau aus Bundesmitteln ist es nicht getan!

Jeder Planer einer neuen Ganztagsschule müsste verpflichtet werden, sich bei jedem Planungsschritt erneut die folgende Frage vorzulegen: Hättest Du Dich selbst als Schüler acht Stunden Tag für Tag über 13 Jahre gern in diesen Räumen aufgehalten? Nur dann, wenn er diese Zwischenfrage für sich selbst jeweils uneingeschränkt mit „Ja!“ beantworten kann, dürfte er weiter planen!

Die Aktenlage: Konzeptbewerbungen – Paradiesbwerbungen – Münchhausbewerbungen

Wie ist für die Jury das Problem zu lösen, wenn zunächst die Vorauswahl über das Medium der geschriebenen Konzepte und Berichte erfolgen muss – wohl wissend, dass die übliche Antragslyrik mehr verbirgt als offenbart? Drei Ausscheidungskriterien haben sich bewährt, um – über die Prüfung der sechs genannten Bereiche hinaus -, in der ersten Wettbewerbsrunde Spreu vom Weizen zu trennen:

  • Eine Konzept-Bewerbung, die sich weitgehend auf die bloße Entfaltung dessen beschränkt, was die Schule will und was die Schüler (oder Mitarbeiter) sollen, hat keine Chance. Schulprogramm und Strukturbeschreibung müssen unterlegt sein mit nachvollziehbaren Hinweisen auf das, was konkret getan und bewirkt wurde.
  • Eine Paradies-Bewerbung, die ausschließlich Erfolge benennt, hat keine oder zumindest eine verminderte Chance. Jede uneingeschränkte Behauptung von Perfektion einer Schule macht misstrauisch. Neugierig macht dagegen die Bewerbung, die ausdrücklich auch Schwierigkeiten und Blockaden benennt und vor allem taugliche Schulentwicklungsinstrumente nachweist, diese überhaupt zu erkennen und anschließend zu bearbeiten.
  • Eher misstrauisch macht schließlich auch die Münchhausen-Bewerbung, mit der eine Schule weiszumachen versucht, dass sie sich ganz allein am eigenen Schopf aus dem Sumpf der deutschen Schullandschaft gezogen hat. Gerade die Erschließung und Nutzung von Ressourcen von außen verspricht langfristigen Erfolg.

Nachdem ich jetzt gerade diese drei Vorfilter aufgedeckt habe, wissen Sie also, wie Sie in Zukunft ihre Bewerbung schreiben müssen, um nicht von vornherein durch das Sieb zu fallen! Aber freuen Sie sich nicht zu früh. Nach der Frage nach der Qualität der Bewerbung folgt die Frage nach der Qualität der Schule. Der Blick hinter die Kulissen der Potemkinschen Dörfer ist möglich.

Der Schulbesuch: Lernen aus der Differenz

In Gesprächen mit Mitarbeitern einer Bewerberschule zu Beginn eines Jurybesuchs begegnen wir regelmäßig einer gewissen Skepsis: Was wollen Sie als Fremde in eineinhalb Tagen von unserer Schule wirklich verstehen? Die Zeit ist doch viel zu kurz?

Unser Geheimnis: Wir lernen aus der Differenz.

Ich will versuchen zu beschreiben, was in meinem eigenen Kopf passiert, wenn wir den Besuch in einer Schule beginnen. Mit dem ersten Gang am frühen Morgen durch das Schultor, den flüchtigen Kontakten mit den ankommenden Kindern, den spontanen Eindrücken über die Gestaltung der Gänge, dem ersten Kontakt mit dem Schulleiter, dem eiligen Blick ins Lehrerzimmer – aus all diesem entsteht blitzschnell eine zweite Phantasie über diese Schule. Sie überformt die erste, die bei der Lektüre der Bewerbung entstanden war. Diese Phantasien müsste ich mir eigentlich verbieten. Denn ich weiß: Es sind im wahrsten Sinn des Wortes Vorurteile. Die entscheidende Aufgabe des Besuches besteht in nichts anderem als dieses erste scheinbar konsistente Bild zu zerstören und dann wieder – nunmehr inkonsistent, mit allen seinen Ungereimtheiten – neu aufzubauen. Basis dafür ist ein Mix ganz unterschiedlicher Blickwinkel: Möglichst viele Unterrichtsbesuche, der Gang über den Schulhof in der Pause, ausführliche Interviews mit Schülern, Schulleitung, Lehrern und Eltern.

Das Entscheidende: Die Reibung, die Widersprüchlichkeit der Bilder, die wir in diesen Gesprächen erkennen, jeder Wahrnehmungsunterschied zwischen den Jurymitgliedern, sind Anlass für einen zweiten, manchmal dritten Blick, eine Suche nach Hintergründen, die Formulierung einer neuen Frage. Wir lernen aus der Differenz.

So kann jeder erfahrene Juror auf seine Weise das Besondere, das Ungewöhnliche, auch das Ärgerliche individuell erfassen, so kann sich die Jury gemeinsam in dem mehrstufigen diskursiven Verfahren dem „Kunstwerk“ Schule vorsichtig annähern und schließlich für einen Preisträger entscheiden. Der Anspruch, dass es sich dabei – im strengen Sinn – um die „beste“ Schule handelt, besteht nicht. Aber um eine sehr gute.

Die nahezu uneingeschränkte öffentliche Akzeptanz der Ergebnisse der ersten drei Wettbewerbsjahre hat dieses Verfahren bestätigt. Die große Wirkung des Schulpreises beweist außerdem: Es ist – trotz aller Einschränkungen – nützlich, in diesem Verfahren einen „Ersten“ bestimmen. Der Preisträger ist erster des jeweiligen Wettbewerbs – nicht erster der Bundesrepublik. Wir sind nach den bisherigen Erfahrungen sicher, dass es noch eine ganze Reihe weiterer Dornröschen-Schlösser in unserem Land gibt! Viele Preisträger und die meisten der nominierten Schulen, die den Preis ja nur knapp verfehlt haben, gehörten keineswegs zu den bundesweit bekannten Leuchttürmen. Das Ziel des Deutschen Schulpreises ist es, den Erfahrungsschatz sehr guter Schulen anderen Schulen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Gute Schulen sollen erkennbar werden und andere Schulen zum Weiterentwickeln (nicht zum blinden Nachahmen!) anregen.

Gewinnchancen

Ich hoffe, ich habe Sie mit dieser Beschreibung des Verfahrens nicht entmutigt. Das Gegenteil sollte der Fall sein. Von insgesamt ca.30.000 Schulen der BRD hatten sich im inzwischen immerhin fast 1.000 beworben. Bei diesem Wettbewerb gibt es keine Verlierer, keinen „Letzten“. Bereits die Teilnahme ist – wie bei der Olympiade – ein Qualitätsausweis. Der erste Nutzen liegt für jeden Bewerber zunächst im Bewerbungsverfahren selbst. Viele Schulen haben uns berichtet, dass es für die eigene Lagebestimmung ausgesprochen nützlich war, ihre Schule auf dem Hintergrund der sechs Kriterien zu erfassen. Der nächst Gewinn ist bereits jeder Schule sicher, die die erste Hürde der Vorjury erfolgreich überspringen kann, und zwar in der Form des Angebots zur Teilnahme an der Akademie des Deutschen Schulpreises. Ihre wichtigsten Bausteine sind:

  • Exzellenzakademie
  • Hospitationsstipendien
  • Lerngemeinschaften
  • Pädagogische Werkstätten

Ein letzter Anreiz zur Bewerbung kann schließlich die Rückmeldung der Stiftung an die Schulen über ihre Platzierung geben. Viele Schulen wollten es wirklich wissen, warum sie nicht zu den Medallienträgern gehörten. Der Hunger nach Entwicklungshilfe ist groß. Sie bekamen nach Abschluss des Wettbewerbs das Angebot für ein ausführliches Beratungsgespräch. Angesichts dieser Gewinnchancen sollte es am Ende keine Rolle mehr spielen, ob Ihre Schule bei dem nächsten Durchlauf des Deutschen Schulpreises Erster oder Letzter wird!

 

 

Ganztagsschulkongress 2009
Einleitungsvortrag zum Forum „Qualität pädagogischer Konzepte im Ganztag“
Berlin, 11.12.2009

Dr. Otto Seydel
Institut für Schulentwicklung
www.schulentwicklung-net.de

Datum: 4.03.2010
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