Selbstkonzept entwickeln

(c) DKJS / D. Ibovnik
© DKJS/D. Ibovnik

In einer Talenteshow zeigen die Schüler der Regelschule Dingelstädt, was sie können: Jonglieren auf dem Einrad, Hunde dressieren oder etwas, was sie in ihren Neigungskursen gelernt haben. Betreute Lernzeiten und fächerübergreifende Lernhefter sollen das selbständige Lernen erleichtern.

Von Britta Kuntoff

Der Papst war auch schon da. Es ist eben schön im durch Mischwälder und von historischen Fachwerkbauten geprägten Eichsfeld. Der entscheidendere Grund für den hohen Besuch aus dem Vatikan vor zwei Monaten mag allerdings gewesen sein, dass fast 80 Prozent der Einwohner dort katholisch sind, und die Gemeinde Eichsfeld seit Jahrhunderten eine katholische Enklave im sonst meist protestantischen Thüringen bildet. Am Tag des Papstbesuchs blieben die Schulen hier geschlossen, auch die Regelschule Johann Wolf in Dingelstädt. Gewöhnlich doch öffnen sich deren Schultüren, um 225 Mädchen und Jungen hereinzulassen und jede und jeden von ihnen gezielt zu fordern und zu fördern, um Talente zu entdecken und das Demokratieverständnis zu schulen. Dafür sei dem Himmel Dank – und den engagierten Pädagogen der innovativen Schule im Nordwesten Thüringens.


In diesem Bundesland können Schülerinnen und Schüler ab Klassenstufe 5 eine Regelschule besuchen und bis zur neunten oder zehnten Klasse bleiben – je nachdem ob sie den Haupt-, den Qualifizierenden Hauptschul- oder den Realschulabschluss anstreben. Dem entsprechend teilt sich an der Regelschule Johann Wolf ab Klasse sieben der Unterricht in den Hauptfächern in Kurse mit unterschiedlichen Leistungsniveaus. Sonst jedoch bleibt die Klassengemeinschaft bestehen.

In Dingelstädt, einem kleinen Ort, in dem rund 4500 Menschen leben, ist die Regelschule seit 2003 eine teilgebundene Ganztagsschule, in der derzeit zweizügig unterrichtet wird. Die Kinder starten morgens um 7.30 Uhr ihren Schultag, bis 14 Uhr haben sie eine 20minütige Frühstückspause, eine 20minütige Hofpause und eine halbstündige Mittagspause.

Schule mit Neigungskursen

Und dann machen alle, was sie wollen. Zumindest in den Neigungskursen, die um zwei Uhr am Nachmittag beginnen, und die sich die Schüler selbst ausgesucht haben. Einige Schülerinnen und Schüler spielen Volley- oder Fußball in der Turnhalle, andere stärken ihre Muskeln im schuleigenen Fitnessraum, an anderer Stelle herrscht konzentriertes Arbeiten beim Acryl-Aquarell und aus der Schulküche zieht der Geruch von frischem Apfelkuchen herauf, den die Kinder aus dem Kurs Kochen und Backen aus dem Ofen ziehen. Eines von insgesamt 19 dieser Nachmittagsangebote ist verpflichtend, die meisten der Kinder wählen jedoch mindestens ein weiteres freiwillig dazu. „Wir haben Schüler, die nachmittags gar nicht nach Hause wollen und gern länger bleiben“, freut sich Kerstin Ewald, die Schulleiterin.

Ihr und ihren Kollegen ist es wichtig, allen Schülern das an die Hand zu geben, was sie für ein gutes Lernen brauchen. Die Schüler der Klassen fünf und sechs können an jedem Tag der Schulwoche die siebte Stunde nutzen, um ihre Hausaufgaben unter der Betreuung eines Lehrers erledigen. Im Fach Lernen lernen erfahren die Kinder, wie sie sich auf Tests vorbereiten oder welcher Lerntyp sie sind. Ein fächerübergreifender Methodenhefter dient als Nachschlagewerk für das, was die Kinder bereits gelernt haben – die Erklärung des Diagramms aus dem Biologieunterricht beispielsweise lässt sich so auch für Erdkunde nutzen.

Kinder mit Lernschwierigkeiten

An dieser Regelschule wird Förderung groß geschrieben, auch, um Kinder mit Lernschwierigkeiten in den Unterricht zu integrieren. Für alle Klassenstufen gibt es Förderprogramme. Bei den Sechstklässler zum Beispiel findet der Förderunterricht in den Fächern Mathematik, Deutsch und Englisch statt. Parallel zum eigentlichen Unterricht kümmert sich ein weiterer Lehrer eine Schulstunde pro Fach und Woche um die Kinder mit schwächeren Lernleistungen. Adrian aus der 6b ist darüber sehr froh: „Das hat mir geholfen, leichter Aufgaben zu lösen“, erzählt der Junge.

Die Rückmeldung und die Meinung der Schüler liegt Kerstin Ewald am Herzen: „Alle vierzehn Tage tagt jede Klasse im Klassenrat. Was besprochen wird, entscheiden die Kinder. Das kann der Wandertag sein oder wie man mit einem Störenfried umgeht.

Lehrer als Diskussionsleiter

Im Idealfall tritt der Lehrer als Diskussionsleiter zurück“, erklärt sie, „Umgang mit Demokratie ist nichts Einfaches, auch das muss man trainieren.“ Die Rektorin will wissen, was an ihrer Schule passiert. Sie hat den runden Tisch eingeführt. Dreimal im Halbjahr trifft sie sich mit den Klassensprechern und holt etwa das Feedback zur längeren Frühstückspause oder zur Hausordnung ein. „Die Schüler sollen sich ernst genommen fühlen und mit bestimmen können“, sagt Kerstin Ewald.

Und die Schüler sollen zeigen, was sie können. Manchmal ist das etwas, was in einer Schulstunde keinen Platz findet. Ulrikes Jonglieren auf dem Einrad oder Jessicas Hundedressur zum Beispiel. „Durch das Netzwerk Lernkultur sind wir auf die Idee gekommen, das Schuljahresende mit einer Talente-Show während des Schulfests zu krönen“, berichtet die Koordinatorin für den Ganztagsbetrieb Gaby Meyer: „Da können die Kinder das loswerden, was sie im Unterricht nicht zeigen dürfen und ernten Applaus. Das ist für alle gut, aber besonders für die, die für ihre schulischen Leistungen nicht immer Anerkennung finden.“

Anerkennung für gute Arbeit, die brauchen auch Kerstin Ewald und ihre Kollegen. Drei der 23 Lehrer gehen nächstes Jahr in den Ruhestand, keine neuen werden eingestellt. „Die Landesregierung gewährt uns für den Ganztagsbetrieb keine Lehrerstunden. Das haben wir bisher mit Überhangstunden gelöst, die durch die Umstrukturierung des Schulwesens nach der Wende entstanden sind. Die fallen jetzt weg“, berichtet Kerstin Ewald und Gaby Meyer fügt hinzu: „Wir haben ein pädagogisches Fundament, aber keines in der Organisation von übergeordneter Stelle.“

Es ist Montagnachmittag. Im Musikraum lässt der ehemalige Schulleiter Josef Vockrodt gerade 15 Kolleginnen strammstehen. Vockrodt ist Leiter des Lehrerinnenchors und probt mit seinen Sängerinnen „Leise rieselt der Schnee“ für den Auftritt bei der Schulweihnachtsfeier. „Wir treffen uns jede Woche eine halbe Stunde. Das macht unheimlich Spaß“, freut sich Schulsekretärin Karin Gundermann. Neben ihr steht Kerstin Ewald und stimmt mit ein in die Jubilate. Zum Jubeln ist ihr beim Gedanken an die schwierige Situation ihrer Schule allerdings nicht immer.

 

© www.ganztaegig-lernen.de