Die eigenen Fähigkeiten nicht adäquat abrufen zu können, kann jedoch auch dazu führen, dass Schüler:innen selbstwertdienliche Verzerrungen nutzen, um das eigene Selbstkonzept und ihren Selbstwert stabil zu halten. Bestimmte Bereiche werden dann als unwichtig betrachtet oder es werden gänzliche Herausforderungen vermieden, um sich mit dieser Angst nicht konfrontieren zu müssen. Langfristig kann es passieren, das sich ene Schüler:innen zur Institution Schule nicht mehr zugehörig fühlen, sie ein verringertes Engagement zeigen und all das in einer negativen Leistungsspirale mündet. Schüler:innen, die ein stereotypes Bedrohungsempfinden wahrnehmen, haben ein geringeres Vertrauen in die Autoritäten, die ihnen gegenüberstehen, wie beispielsweise Lehrkräfte. Sie verschließen sich gegenüber leistungsbezogenem, kritischem Feedback, das allerdings wichtig ist, um in Lernprozesse einsteigen zu können.
Vielfalt entfalten: Wie können Lehrkräfte dem entgegenwirken und Lernende stärken?
RV: Um Lernende zu stärken, ist es wichtig, dass sich Lehrkräfte zunächst damit auseinandersetzen, dass ein stereotypes Bedrohungserleben Konsequenzen nach sich zieht. Lehrkräfte als Autoritätspersonen im Lernfeld Schule können diese jedoch über ihre impliziten Erwartungen beeinflussen – sowohl funktional, also in eine positive Richtung, als auch dysfunktional. Lehrende tragen eine große Verantwortung, die aber nicht als eine Belastung gesehen werden sollte, sondern die im Grunde etwas sehr wertvolles ist. Denn Lehrkräfte haben die Möglichkeit zu agieren und etwas positiv zu verändern. Sich dessen bewusst zu werden und proaktiv zu handeln, halte ich für den wichtigsten Ausgangspunkt. Im Anschluss geht es um Reflexion und die Auseinandersetzung mit der eigenen Grundhaltung, den eigenen Stereotypen und Vorurteilen. Wir alle tragen sie in uns, müssen uns mit ihnen aber auseinandersetzen.
Vielfalt entfalten: In dem Handbuch werden zwei Interventionen beschrieben, mithilfe derer Schüler:innen gestärkt werden können. Worum geht es bei der ‘Werteaffirmation’ und ‘wachstumsorientierten Grundhaltung’?
RV: Beide Interventionen helfen dabei, die dysfunktionalen Leistungsüberzeugungen von Schüler:innen positiv zu beeinflussen. Die erste Intervention ist die Werteaffirmation. Diese setzt eher bei den Schüler:innen an und besteht aus einer Schreibaufgabe, die vor einer Klassenarbeit durchgeführt wird, und in der sich die Schüler:innen mit ihren persönlichen Werten auseinandersetzen. Basierend auf einem Comic wählen die Schüler:innen zwei Werte aus – zum Beispiel ‘Familie’ oder ‘Freunde’ und schreiben dazu einen Aufsatz. Es klingt im ersten Moment etwas paradox zur Klassenarbeit, die im Anschluss geschrieben wird, aber es führt eben dazu, dass sich die Schüler:innen vom Stress ablenken, den sie möglicherweise empfinden und so ihre Arbeitsgedächtniskapazitäten freimachen. Dadurch haben sie eine größere Chance, eine bessere Leistung zu erzielen. Das wiederrum wirkt dann auf die Lehrer:innen ein, welche die gesteigerte Leistung wahrnehmen und anschließend positiveres Feedback an die Schüler:innen herantragen, was sich einerseits positiv auf die Lernmotivation der Schüler:innen und im besten Fall auch wieder ins Elternhaus oder in das breitere Schulumfeld überträgt. Dadurch entsteht ein System, das miteinander agiert und sich gegenseitig bedingt.
Im Fall der zweiten Intervention, der wachstumsorientierten Grundhaltung, sind es, neben der Grundhaltung der Schüler:innen, auch die Lehrüberzeugungen der Lehrer:innen, die beeinflusst werden. Die Intervention setzt an den implizierten Überzeugungen zu Intelligenz an. Hier gibt es verschiedene Ansichten, genauer gesagt zwei Gegenpole. Einerseits gibt es die wachstumsorientierte, dynamische Grundhaltung. Die Annahme dabei: Intelligenz ist veränderbar. Das Gehirn funktioniert wie ein Muskel, der regelmäßig trainiert werden muss, um Fähigkeiten und Kompetenzen zu erweitern. Und dann gibt es noch ein statisches Bild von Intelligenz. Dabei wird angenommen, dass Intelligenz festgeschrieben und genetisch festgelegt ist und es keine weiteren Möglichkeiten gibt. Wenn Schüler:innen aus einem Umfeld kommen, das ihnen nicht ausreichend Möglichkeiten bietet, bleiben sie möglicherweise hinter ihrer eigenen Lern- und Leistungsfähigkeit zurück. Wobei man hier anmerken muss, dass bei geringer vorliegenden Ressourcen demnach auch weniger Anknüpfungspunkte vorhanden sind. Dass die Lernleistung sich dann weniger stark steigert, liegt dann aber eben nicht an den neurologischen Grundlagen, sondern an Möglichkeiten, die nicht geboten werden.