Individuelle Lernzeiten als Freiräume an der Ganztagsschule

Mit Freiräumen groß werden - Individuelle Lernzeit

Das Geheimnis des Erfolgs der Evangelischen Schule Neuruppin, einer offenen Ganztagsschule, erschließt sich dem Besucher, wenn er sich den Stundenplan der Schülerinnen und Schüler genauer anschaut. Hier sind Lernzeiten fester Bestandteil der Woche. In der Lernzeit sollen die Kinder im Rahmen selbstständiger Arbeit das Lernen lernen.

Seit 2010 ist in allen Klassenstufen die Lernzeit eingerichtet worden. Sie ist somit bereits in der Grundschule ein verbindliches Zeitfenster, um die Kinder an Freiräume zu gewöhnen und in konkreten Fällen auf besondere Förderbedarfe einzugehen. So werden schon die Kleinsten auf die notwenigen Voraussetzungen selbstständigen Lernens und auf den Umgang mit individuellen Freiräumen eingestimmt. In Neuruppin bereiten sich die Kinder und Jugendlichen auf diese Weise auf das eigene Leben vor!

Evangelische Schule Neuruppin

Bundesland: Brandenburg

Offene Ganztagsschule

Schulpreisträger 2012

Webseite der Schule

Die Klassen 1 bis 12 verteilen sich in der Evangelischen Schule Neuruppin auf drei Häuser. Erreicht ein Kind die jeweils nächste Schulstufe, so wechselt es lediglich das Haus, jedoch nicht die Schule. Es kann sich darauf verlassen, dass an seine erworbenen Fähigkeiten angeknüpft wird: Bildung ohne Brüche! Dahinter steht das Teamspiel von Grundschulpädagogen, Sonderpädagogen, Sozialarbeitern, außerschulischen Partnern und Lehrern, die in der Sekundarstufe arbeiten.

Dass es die Lernzeit schon vormittags gibt, dafür sorgt ein mittlerweile sehr bekannter „Trick“, den sich die Kolleginnen und Kollegen beim Hansa-Gymnasium in Stralsund abgeschaut haben: Jeder Unterrichtstunde werden fünf Minuten abgezogen. Die so gewonnene Zeit wird als individuelle Lernzeit im Stundenplan verzeichnet. Die Aufgaben sind differenziert, die Kinder sollen diese nach eigenen Interessen auswählen und anhand ihrer individuellen Möglichkeiten lösen. Zeitgleich unterstützen außerschulische Partner mit speziellen Angeboten Kinder, die einen besonderen Förderbedarf haben. So finden Sprach-, Lese- und andere Förderkurse am Vormittag ihren Platz.

Die Wiege des selbstständigen Lernens

Wer in den Mathematikunterricht der zweiten Klassen schaut, ist überrascht. Nachdem die neue Malfolge vorgestellt wurde, individualisiert sich das Lernen der Kinder. Alina nennt es: „Ich arbeite!“ Der ganze Raum ist eine Lernumgebung. In vielen Regalen und auf den Tischen der Kinder lagern die unterschiedlichsten Materialien, um unterschiedlichste Aufgaben zu lösen. Dennoch bricht kein Chaos aus, denn jedes Kind verfolgt einen eigenen Plan. Alina sucht sich eine Aufgabe heraus. Ihr ist klar, dass sie zunächst schauen muss, ob das dafür notwendige Material „frei“ ist. Wird es ihr mit der Aufgabe zu kompliziert, fragt sie zuerst ihre Nachbarin, dann erst die Lehrerin. Obwohl es dabei summt wie in einem Bienenstock, ist das normaler Unterricht, in dem die Schüler neben Mathematik auch lernen, wie sie selbstständig in den individuellen Lernzeiten arbeiten. Die Lernzeit setzt selbstständiges Lernen voraus, in der Grundschule werden die ersten Fähigkeiten dafür entwickelt, die nachfolgenden Stufen bauen darauf auf und entwickeln sie weiter bis zum Abitur.

Lernzeit als Wochenplan

In der Sekundarstufe gibt es zusätzlich zur Lernzeit auch Wochenplan-Arbeit. Die Aufgaben des Wochenplans entwickeln die Lehrerinnen und Lehrer in Jahrgangsteams. Der Plan umfasst ein mit jeder Schülerin und jedem Schüler individuell vereinbartes Lernpensum. Die Aufgaben beziehen sich mehrheitlich auf ein Pflichtfach, bis 40 Prozent können jedoch je nach Interessenlage aus anderen Fächern gewählt werden. Aus diesem Grunde gleicht kein Plan dem anderen. Als Verabredungsgrundlage bietet er den Schülern persönliche Wahlmöglichkeiten. Fragt man die Schüler, sprechen sie von Freiräumen.

Veränderte Teamstrukturen

Die Lernzeit setzt eine vorbereitete Lernumgebung mit Wahlmöglichkeiten, anspruchsvollen Aufgaben, Material und Medien voraus. Diese Lernumgebung ist durch die Zusammenarbeit der Lehrerinnen und Lehrer auf der Ebene von Jahrgangsteams entstanden. Die Zeit hierfür ist der Kürzung von Konferenzzeiten zur verdanken, einer weiteren Idee, die die Evangelische Schule Neuruppin von ihrer Hospitation in Stralsund mitgebracht hat. Dort hörten sie: „Konferenzen sind zu groß! Zu unpersönlich! Wenig effektiv!“ Nun trifft sich – auf ein Minimum an Zeit gekürzt – das ganze Schulpersonal nur noch, um große Themen zu besprechen und zentrale Informationen zu erhalten. Die gewonnene Zeit wird nun genutzt, um in kleineren Runden zu arbeiten. Seitdem gibt es Jahrgangsteams und mit ihnen die Lernzeit. Dass in der Grundschule Jahrgangsteams gleichzeitig multiprofessionelle Teams sind, liegt vor allem daran, dass besondere Förderbedarfe verbindlich integriert werden und die Erzieherinnen aus dem Hort mit am Tisch sitzen. In der Sekundarschule kommen Partner aus Vereinen, Eltern oder andere dazu.

Geheimrezept der Schulpreisgewinnerin 2012: Die Morgenstation

Ab der ersten Klasse beginnt der Tag mit einer Morgenbesinnung, der sogenannten „Morgenstation“, ein Ritual bei dem die Klassenlehrer sich und die Kinder auf den bevorstehenden Tag einstimmen oder die Klasse auch gemeinsam in einem Buch liest. Fragt man die Schule nach ihrem Erfolg, bezieht sie sich immer wieder auf diesen ersten Moment eines jeden Schultages. In der „Morgenstation“ wird an die gemeinsame und für die Klasse jeweils eigene Vision erinnert und die Motivation für Leistung und Anstrengung gesteigert. „Der Glaube an mich selbst wird geweckt!“, so beschreibt es Felix aus der 7. Klasse. In seiner Klasse besinnt man sich immer wieder auf ein Wort von Einstein: „Wer nicht mehr neugierig ist, ist seelisch tot!“.

Zeit, Raum, Logistik und Vertrauen!

Die Rhythmisierung verschafft nicht nur den Lernenden individuelle Freiräume, auch die Lehrenden und Lernbegleiter nehmen diese für sich persönlich in Anspruch. Sie haben nicht nur Teamzeiten gewonnen, die Schulleiterin garantiert individuelle Freiräume auch durch Vertrauen. So können Lehrerinnen und Lehrer neue Ideen als Lernkonzepte erproben. „Wenn ich was Bestimmtes erreichen will, dann kann ich mir das organisieren!“, so beschreibt es eine Physiklehrerin. „Dabei wird das Scheitern einer Idee nicht als Rückschritt, sondern vielmehr als Chance begriffen.“ Und sie ergänzt: „Schule ist so gut, wie sich in ihr für die Lernenden und ihre Lehrerinnen und Lehrer tatsächlich Freiräume ergeben.“ Zeit, Raum, Logistik und Vertrauen sind die Wände der spürbaren und dennoch unsichtbaren Frei-„Räume“. Mit denen begründen die Mitstreiterinnen und Mitstreiter um Schulleiterin Bachmann ihre erfolgreiche Schulentwicklung. 2012 wurden sie dafür als beste Schule Deutschlands ausgezeichnet.

Freiraum konsequent: Schule ohne Lehrer

Einmal im Jahr findet in der Evangelischen Schule Neuruppin die Schule ohne ihre Lehrkräfte statt. An diesem Tag bilden sich die Lehrerinnen und Lehrer fort. Damit das ohne Unterrichtsausfall möglich ist, hat die Schulkonferenz beschlossen, dass sich die Schülerinnen und Schüler selbst unterrichten. Auch im Sekretariat trifft man nur auf Schüler, selbst die Schulleitung wird von Schülern wahrgenommen. „Es ist der schönste Tag im ganzen Schuljahr!“, fasst Anna diese Idee zusammen. „Wir haben uns und unsere Lehrer noch nie enttäuscht! Wir finden dieses Vertrauen cool!“, stellt auch Robert aus der 8. Klasse fest. Auf die Frage, was die Lehrerinnen und Lehrer damit bezwecken, wird von der Wirkung von Verantwortung gesprochen und wie prägend dieses Gefühl für die Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler ist. Dieser eine Tag ist der wohl größte Freiraum der Lernenden, aber auch die größte Herausforderung.
 

02.04.2013
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