G8-Gymnasium ohne Hausaufgaben

Das Lernzeit-Modell des Frauenlob-Gymnasiums in Mainz.

von Britta Kuntoff

Heißt es nun „Ich habe Blumen gepflückt“ oder “Ich pflückte Blumen“?  Die zehnjährige Lena sitzt in ihrem Klassenraum vor ihren Deutsch-Übungen und versteht einfach nicht, wann welche Zeitform angewandt wird. Als Lena sich meldet, um zu fragen, bietet ihre elfjährige Mitschülerin Sarah Hilfe an: „Ich bin schon fertig, ich kann dir das mit dem Imperfekt und dem Perfekt gerne erklären.“ „Einverstanden“, meint ihre Lehrerin und schickt die beiden Fünftklässlerinnen nach nebenan in den sogenannten Differenzierungsraum. Hier dürfen die Schülerinnen miteinander reden und anders als im Klassenraum auch mal lauter sein. Die drei Jungs, die auch schon hier lernen, stört das nicht. Sie diskutieren gerade darüber, wie der Dialog aussehen könnte, den sie demnächst im Unterricht präsentieren wollen.

Dies ist nur ein Beispiel einer Lernzeit-Szene am Frauenlob-Gymnasium in Mainz. Lernzeiten sind, genau wie Doppelstunden und Intensivierungsunterricht, wesentliche Bausteine im rhythmisierten Schulkonzept des G8-Ganztags-Gymnasiums (G8GTS). Es ermöglicht der Mainzer Schule, trotz der verkürzten Gymnasialzeit auf Hausaufgaben zu verzichten.

„Mit Hausaufgaben erreicht man häufig nicht das Ziel, das man anstrebt“, erklärt die Lehrerin Su Steeg. An der Schule unterrichten 110 Lehrkräfte 1.100 Schülerinnen und Schüler. „Mit Hausaufgaben soll der Unterrichtsstoff eigentlich geübt, gelernt und vertieft werden“, ergänzt der Ganztagskoordinator Ulf Neumann-Welkenbach. „Doch wenn die Aufgaben daheim erarbeitet werden, sehen wir Lehrkräfte nur das Ergebnis. Wie es dazu gekommen ist, bleibt völlig außen vor.“

Dabei ist gerade der Arbeitsprozess entscheidend für den Lernerfolg. Und der ist sehr individuell. Während eine Schülerin ihre Übung in einer halben Stunde erledigt hat, benötigt ein anderer Schüler doppelt so lange. „Manche saßen vier Stunden an Hausaufgaben, das ist ein Unding“, erinnert sich Katrin Thelen, Sport- und Französischlehrerin.
„Die Frage ist dann, warum ein Schüler länger braucht als ein anderer“, meint Ulf Neumann-Welkenbach. „Arbeitet er sehr gründlich, hat er den Stoff nicht verstanden oder ist er vielleicht sogar komplett überfordert? Das kann ich nur einschätzen, wenn ich den Arbeitsvorgang beobachten kann“, so der Koordinator der rheinland-pfälzischen Schule.

Hausaufgaben sind nicht selten ungerecht, beobachtet Su Steeg: „Manch ein Kind hat ein Elternteil, das es bei den Übungen unterstützen kann oder aber die Familie ist finanziell in der Lage, sich Nachhilfeunterricht zu leisten.“ Diese Möglichkeiten stehen aber nicht allen Kindern offen.

„Hausaufgaben nach dem alten Modell kosten außerdem wertvolle Unterrichtszeit“, meint Su Steeg. Sie müssen aufgegeben und kontrolliert werden. Es dauert, sich die Entschuldigungen für fehlende Aufgaben anzuhören. „Und der Schülerin, die die Aufgabe bereits verstanden hatte, bringt die Besprechung hinterher meistens genauso wenig wie der Schülerin, die damit in der letzten Stunde bereits Probleme hatte“, sagt Su Steeg, „das ist reine Zeitverschwendung.“

„Lernen gehört dahin, wo die Fachleute sind, also in die Schule“, ist sich Ulf Neumann-Welkenbach sicher. In 45-minütigen Lernzeiten arbeiten die Schülerinnen und Schüler des Frauenlob-Gymnasiums vier Mal wöchentlich entweder vor oder nach der Mittagspause oder während des Mittagsgürtels.

Die Lernzeiten der unteren Klassen sind an Fächer gebunden, das heißt, dass in jeder Lernzeit nur Übungen eines Faches, etwa Mathematik oder Englisch, von den Mädchen und Jungen bearbeitet werden. Grundlage dieser Lernzeiten sind Lernzeitmappen, die die Schüler über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen führen. Damit ist die nächste Unterrichtsstunde nicht wie beim alten Hausaufgabenmodell an eine Aufgabe für alle gekoppelt. „Früher musste man diese Aufgabe erledigt haben, um überhaupt folgen zu können“, so Su Steeg. Alle, die sie nicht geschafft hatten – aus welchen Gründen auch immer – liefen Gefahr, in der nächsten Unterrichtsstunde abgehängt zu werden. Durch Lernzeiten-Übungen, die sich in Pflicht- und Wahlaufgaben für schnellere Schülerinnen und Schüler teilen, ist es den Kindern und Jugendlichen dagegen möglich, der nächsten Stunde lernend zu folgen.

„Weil sich die Kinder in den Lernzeiten gegenseitig helfen, habe ich außerdem die Zeit, mich intensiv Schülern zu widmen, etwa denen, die den Stoff nicht verstanden haben“, erklärt Su Steeg. Oder sie könne zum Beispiel die, die ihre Aufgaben schon erledigt haben, in einen Nebenraum schicken, damit sie einen kleinen Film drehen.

In den Lernzeiten ab der 7. Klasse bestimmt die Klassenlehrerin oder der Klassenlehrer zusammen mit den Kindern und Jugendlichen, was zu tun ist. „In der Lernzeit üben wir etwa für einen Test, der demnächst ansteht“, sagt Ulf Neumann-Welkenbach. „Diese gemeinsame Planung ist ein gutes Instrument, um eigenständig zu werden“, findet Katrin Thelen, „denn sich in ein Schulsystem einzuarbeiten, zu planen, was heute und morgen zu tun ist, verlangt viel von einem Schüler der Unterstufe. In den Lernzeiten werden sie schrittweise daran herangeführt.“

Die Lernzeiten aller 7. Klassen laufen parallel; die Schülerinnen und Schüler haben damit Lehrkräfte unterschiedlicher Fächer als Ansprechpartner. „Wenn ich eine Frage in NaWi nicht beantworten kann, schicke ich den Schüler zu meinem Kollegen, der in dem Fach ausgebildet ist“, erklärt Ulf Neumann-Welkenbach.

„Ich bin sicher“, so der Ganztagskoordinator, „dass G8 die Schüler weniger überfordert, wenn sich verschiedene Formen des Lernens zwischen 8 und 16 Uhr abwechseln und Tag wie Schulwoche Rhythmen haben.“ Die Hausaufgaben – oder besser gesagt die vertiefenden Übungen am Frauenlob-Gymnasium sind als Lernzeiten in diesen Rhythmus integriert. Diese Übungen finden ihren Raum auch im Intensivierungs- und Doppelstundenunterricht.

Das entspreche der Belastungsstruktur der Kinder und Jugendlichen einfach besser als ein zweigeteilter Tag von Unterricht am Vormittag und Hausaufgaben am Nachmittag.
Für Sarah aus der 5c haben Lernzeiten allerdings noch zwei weitere Vorteile: „Hausaufgaben habe ich schon mal vergessen. Das kann jetzt nicht mehr passieren. Vor allem aber fühlen sich die Lernzeit-Übungen viel besser an, als ein Paket von Aufgaben, dass man nach der Schule auch noch Zuhause erledigen muss.“
 

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