Eine offene Schule - nach innen und nach außen

Frau und Kind gucken sich ein Mikroskop an
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An der Gebundenen Ganztagsgrundschule Saarbrücken-Kirchberg war allen klar: Eine Schule in einem sozialen Brennpunkt muss den ganzen Tag für ihre Schüler da sein, um sie ausreichend fördern zu können. Drei Jahre Ganztag zeigen bereits ihre Wirkung: Nicht nur die Leistungen der Schüler haben sich verbessert. Auch der Umgang miteinander hat sich verändert und es gibt weniger Gewalt.

Lara und Nikita blicken verdutzt auf ihre selbst gepflanzten Kürbissträucher. Vor einer Woche haben die Zweitklässler die Pflänzchen in den Schulgarten gesetzt und jetzt sind sie verschwunden – aufgefressen von den Schnecken. Immerhin, zwei Pflänzchen, die noch stehen, sind schon wieder ein ganzes Stück gewachsen. Liebevoll machen sich die Kinder an die Arbeit. Die Sträucher werden gegossen, gedüngt und schließlich mit Heu vor weiteren Schnecken-Angriffen geschützt.

Jeden Mittwochnachmittag gärtnern Lara, Nikita und die anderen Kinder der Neigungsgruppe “Natur im Schulgarten". Neben den Kürbissen haben sie auch Tomaten, Erdbeeren und Paprika gepflanzt. „Lesen und Schreiben mag ich nur, wenn ich gut bin. Die Neigungsgruppe mag ich immer“, sagt Lara. Neigungsgruppe, so heißen die „Pflicht-AGs“ an der Gebundenen Ganztagsschule Saarbrücken-Kirchberg. Seit die Schule zum Schuljahr 2011/2012 in den Ganztag für alle ging, hat jedes Kind einen Nachmittag in der Woche für Aktivitäten wie Hip-Hop-Tanz, Kochen, Trial oder eben Gärtnern reserviert.

Mehr Zeit zum Fördern

Doch vor allem stehen jetzt rund 10 Unterrichtsstunden mehr pro Woche zur Verfügung, in denen die Kinder zusätzlich gefördert werden. Und das ist dringend nötig. Denn die Ganztagsgrundschule liegt mitten in Saarbrücken-Malstatt, einem sozialen Brennpunkt. Lehrer Henning Wagner vergleicht die Schullaufbahn seiner Schüler mit einem 100-Meter-Lauf: „Während andere Kinder bei der Einschulung schon einen Vorsprung von einigen Metern haben, müssen sich unsere Schüler erst noch umziehen, wenn der Startschuss fällt.“
Von den 250 Schülern der Grundschule haben 75 Prozent einen Migrationshintergrund, rund 45 Nationalitäten sind an der Schule vertreten.“ Diese Vielfalt ist für uns selbstverständlich, über das Zuckerfest reden wir genauso wie über Weihnachten“, sagt Schulleiterin Silke Möckl. „Und ein Problem, das es bei uns nicht gibt, ist Rassismus. Denn fast alle Familien haben eine andere Herkunft.“ Die größten Schwierigkeiten sieht Möckl viel mehr bei den Kindern aus deutschen Familien, von denen viele seit mehreren Generationen von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Oftmals hat bei diesen eher bildungsfernen Familien die Schule keinen hohen Stellenwert.“

Die Ganztagsschule bietet Verlässlichkeit

Die Ganztagsschule bietet Verlässlichkeit und einen strukturierten Tag -  etwas, das viele Kinder zuhause nicht erleben. „Die Kinder brauchen viel emotionale Unterstützung“, sagt Möckl. „In einem Stadtteil wie Malstatt muss die Schule in mancher Hinsicht die Familie ersetzen.“

Kaum Widerstände bei den Kollegen

So rannte Möckl im Kollegium offene Türen ein, als sie Ende 2009 vorschlug, vom offenen auf den gebundenen Ganztag umzusteigen. „Allen Kollegen war klar, dass wir das brauchen.“ Auf der Gesamtkonferenz habe man eine halbe Stunde diskutiert, dann sei die Entscheidung gefallen. „Selbst die Kollegen, die nicht im Ganztag arbeiten wollten, stimmten dafür, um uns bei diesem nötigen Schritt nicht zu behindern.“

Im Sommer 2011 ging mit der Einschulung der erste Jahrgang in den Ganztagsbetrieb. Ein Team aus drei Lehrern und drei Erziehern erarbeitete den neuen rhythmisierten Stundenplan. Nun wird am Vormittag in zwei Blöcken unterrichtet, Sport- und Kunstunterricht finden am Nachmittag statt. Und das Wichtigste, jeden Tag ist die fünfte Stunde für den Förderunterricht reserviert. Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei den 1. Klassen. In Kleingruppen wird hier klassenübergreifend je nach Förderschwerpunkt intensiv geübt. Dieser Freiraum wurde möglich, indem alle anderen Schüler, die jeweils nicht an der Förderung teilnehmen, in dieser Zeit  von ihren Erziehern betreut werden.

Offen für die Voraussetzungen, die jedes einzelne Kind mitbringt

„Dinge, die an anderen Schulen völlig normal sind, sind für uns schon ein kleiner Erfolg: etwa, dass jedes Kind einen Bleistift dabei hat, oder dass die Eltern mit ihrem Kind zuhause üben“, erklärt Wagner. Vielen Eltern im Stadtteil gelinge es nicht, ihre Kinder pünktlich in die Schule zu schicken. Die Leidtragenden seien aber die Schüler, die sich dafür schämten. Daher wird zum Schulbeginn am Morgen eine Art „Gleitzeit“ geduldet, in der ein Schüler nach dem anderen eintrudelt. Weil das im normalen Unterricht stören würde, wird nun in der ersten Stunde selbstständig gearbeitet.

Bei einer Klasse mit 24 Kindern aus 14 Muttersprachen müsse er jedem Schüler offen begegnen, ohne einen bestimmten Standard zu erwarten, meint Wagner. Um den unterschiedlichen Voraussetzungen gerecht zu werden, wird an der Ganztagsschule Saarbrücken-Kirchberg mit einem hohen Maß an Binnendifferenzierung unterrichtet. Ziel ist, dass die Schüler differenzierte Klassenarbeiten schreiben und Wagner hofft, irgendwann auch differenzierte Zeugnisse vergeben zu können.

Weniger Gewalt durch mehr Zusammenhalt

Als Klassenlehrer war Wagner gleich beim ersten Ganztags-Jahrgang dabei. „Von der Schulleitung hatten wir die Freiheit, zu probieren, auch Fehler zu machen und zu korrigieren.“ Nun sieht er die Erfolge: „Meine Klasse ist nach 3 Jahren wesentlich stärker als ich das gewohnt bin. Dank der zusätzlichen Förderstunden konnte ich auch die Kinder mitnehmen, die große Schwierigkeiten beim Lernen haben.“  
Der Ganztag habe zudem das soziale Klima verbessert, meint Wagner. „Dass einer am Boden liegt und getreten wird, war früher an der Tagesordnung. So etwas sehen wir heute nur noch ganz selten.“ Die Gewalt habe abgenommen, weil sich alle Schüler eines Jahrgangs aus der gemeinsamen Nachmittagsbetreuung kennen. Und natürlich sei die Unterstützung der inzwischen 10 ausgebildeten Erzieherinnen, die nachmittags mit den Kindern arbeiten, zu spüren.

Für das klassenübergreifende Arbeiten im erweiterten Team mit den Erzieherinnen mussten bei vielen Kollegen Bedenken ausgeräumt werden. „Lehrer sind es gewohnt, dass sie ihre Klasse haben, die Tür zumachen und sich von niemandem in den Unterricht reinreden lassen“, erzählt Wagner. „Wir mussten dieses Denken überwinden und lernen, uns stärker an den Bedürfnissen der Kinder zu orientieren.“ So komme es vor, dass an einem Nachmittag ein Lehrer mit nur drei Schülern zusammensitzt, um ein Thema zu wiederholen, während seine Kollegin mit 20 Schülern arbeitet.

Offen für den umliegenden Stadtteil

Draußen auf dem Schulhof kommen Lara und Nikita zurück vom  Schulgarten. Sie schieben ihren Bollerwagen mit den Geräten vorbei an einer anderen Neigungsgruppe, die gerade Völkerball spielt. Auf dem Bolzplatz wird gekickt, an einer Schaukel gibt eine Mutter ihrem Kleinkind Schwung. Richtig leer wird es hier selten. „Unsere Schule ist offen nach innen und nach außen“, heißt es in der Selbstdarstellung. Die große Offenheit, die die Zusammenarbeit zwischen Lehrerinnen und Erzieherinnen prägt, setzt sich auch nach draußen fort. Der große Schulhof ist nach allen Seiten offen, es gibt keinen Zaun, keine Mauer. Ein öffentlicher Weg führt mitten hindurch. Die Schule versteht sich als grüne Insel und Treffpunkt im alten Arbeiterstadtteil Malstatt. So sollen auch die Eltern erreicht werden, die Angst vor öffentlichen Einrichtungen haben und schon aus Sprachproblemen Hilfsangebote meiden.

Schulische und außerschulische Kinder- und Jugendarbeit

Eine offene Tür finden Familien auch in einem Seitenflügel des Schulgebäudes, wo sich das Kinderbildungszentrum KIBIZ befindet. Hier werden Deutschkurse für Eltern, Turngruppen, eine Theaterwerkstatt und Ferienaktivitäten angeboten. „Das ist sehr wichtig für Kinder aus Familien, die sich keinen Urlaub leisten können und noch nicht mal kleine Ausflüge in den sechs Wochen Sommerferien unternehmen“, sagt Anna Witkowska, eine Mitarbeiterin des KIBIZ. Familien, in denen es Probleme gibt, finden hier eine Anlaufstelle. Die Mitarbeiter beraten, begleiten bei Ämtergängen oder vermitteln professionelle Hilfe.
Durch die kurzen Wege hat sich die Einrichtung zu einem der wichtigsten Partner der Schule bei der Jugend- und Sozialarbeit entwickelt. „Eltern, die ein niedrigschwelliges Angebot suchen, bringe ich gleich hier runter“, sagt die Schulsozialarbeiterin Christina Blies, die sich ihre Arbeit ohne die Unterstützung durch das KIBIZ gar nicht mehr vorstellen kann.
So organisiert das KIBIZ auch das morgendliche kostenlose Frühstück in der Schule. Den Lehrern war aufgefallen, dass viele Kinder hungrig in die Schule kommen. Mit der Hilfe von ehrenamtlich tätigen Müttern wird jeden Tag ab 7:30 Uhr ein Frühstück angeboten, an dem 40 bis 50 Schüler teilnehmen. Und längst kommen nicht mehr nur Kinder, die zuhause nichts kriegen. „Auch andere sind morgens schon da, weil es einfach Spaß macht, zusammen zu frühstücken“, erzählt Witkowska.
Die Ganztagsschule Saarbrücken-Kirchberg hat sich zu einer Schule entwickelt, in der Schüler nicht nur den Unterrichtsstoff, sondern auch Gärtnern oder Tanzen lernen, wo sie frühstücken und Mittagessen können – die grüne Insel ist eine zentrale Lebenswelt für die Kinder geworden.

Autorin: Wibke Bergemann

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26.08.2014