Ganztagsbildung kommunal gestalten – den Rechtsanspruch gemeinsam umsetzen: Rückblick auf den DKJS-Workshop in Berlin am 25.11.2022

Abgebildet ist ein Veranstaltungssaal, in dem mehrere Teilnehmende von hinten an Tischen sitzend zu sehen sind. Im Hintergrund ist eine ebenerdige Bühne zu sehen, auf der mithilfe eines Beamers eine Präsentation gezeigt wird.
© DKJS

Seit dem 10. September 2021 ist das Ganztagsförderungsgesetz beschlossen. Ab dem Schuljahr 2026/27 erhalten zunächst Grundschüler:innen in der ersten Klassenstufe einen Anspruch auf ganztägige Betreuung. Bis zum August 2029 wird der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung schließlich schrittweise auf alle Grundschulkinder von der ersten bis zur vierten Klasse ausgeweitet. Doch wie wird das in der Umsetzung gelingen? Welche Fragen bewegen die verschiedenen Akteur:innen aus Schule, Jugendhilfe, Kommune und Bildungspolitik? Welche Unterstützungsbedarfe werden benannt? Wie kann der Rechtsanspruch in gemeinsamer Verantwortung umgesetzt werden?

Um gemeinsam erste Antworten auf diese und weitere Fragen zu entwickeln, lud die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung am 25.11.2022 zu einem ganztägigen Workshop nach Berlin ein. Mehr als 30 Vertreter:innen aus Kommunen, Trägern und Spitzenverbänden der freien Jugendhilfe, Kommunen, Bundes- und Landesministerien, Zivilgesellschaft und Wissenschaft folgten der Einladung und diskutierten intensiv über die zahlreichen Herausforderungen, die mit der Umsetzung des Rechtsanspruchs verbunden sind.

Impulse aus Bildungspraxis und Wissenschaft

In einer moderierten Gesprächsrunde gaben drei Expert:innen aus der kommunalen Bildungspraxis und der Wissenschaft wertvolle Impulse und schilderten ihre Perspektive auf die derzeitigen Entwicklungen.

Prof. Dr. Falk Radisch, Professor am Institut für Schulpädagogik und Bildungsforschung an der Universität Rostock, betonte, dass es aktuell zwar etliche Diskussionsrunden gebe, sich jedoch viele der aktuellen Diskussionen um formale, juristische und organisatorische Fragen bezüglich des Rechtsanspruchs drehten. Dabei seien Bildungsmangel und soziale Ungerechtigkeit die eigentlichen Probleme. Der Rechtsanspruch sei diesbezüglich „ein wichtiges Instrument“, jedoch nicht wirklich auf diese Problematiken fokussiert.

Bildung sei das zentrale Gut unserer Gesellschaft – und daher wäre eine öffentliche Bildungsdebatte aus Sicht von Prof. Falk Radisch wichtig. Doch eine solche Debatte könne nicht zentralistisch und allgemein geführt werden. Es brauche auf verschiedenen Ebenen Austauschformate und Möglichkeiten, voneinander und miteinander zu lernen. Diese Austauschmöglichkeiten habe es in der Vergangenheit bereits gegeben, aber ein Großteil davon sei weggebrochen.

Schulen und andere Formen des Ganztags brauchten einen Rahmen und Standards, aber es gehe nicht um Vereinheitlichung, sondern Qualität müsse letztendlich vor Ort gelingen. Mit Blick auf die Umsetzung des Rechtsanspruchs bezeichnete Prof. Falk Radisch das Personalproblem als die größte Herausforderung.

Evelin Klein, Projektteamleitung „Gesamtkonzept Ganztag“ im Stadtschulamt Frankfurt am Main, stellte die umfassenden Aktivitäten der Stadt Frankfurt am Main in der (Weiter-)Entwicklung der Ganztagsgrundschule vor. Bereits im Jahr 2017 wurde das „Gesamtkonzept Ganztag“ mit dem Auftrag, ein einheitliches Förderprogramm mit dem Fachfeld zu entwickeln, durch einen Magistratsbeschluss auf den Weg gebracht. Unter dem Motto „Ganztag gemeinsam gestalten“ startete das Stadtschulamt Frankfurt 2019 mit dem Fachfeld einen Beteiligungsprozess zur Entwicklung eines Gesamtkonzeptes für ganztägig arbeitende Grundschulen. Etwa 180 Fach- und Leitungskräfte aus der Frankfurter Bildungslandschaft erarbeiteten schließlich einen Konzeptentwurf, der auf 47 Maßnahmen in den Entwicklungsbereichen Pädagogik, Organisation und Architektur aufbaut. Dieser bildet die Grundlage für die zweijährige Pilotphase, die im Frühjahr 2021 begonnen hat und noch bis Mitte 2023 läuft. Neun Pilotstandorte in Frankfurt nehmen daran teil, jeweils bestehend aus Schule, Träger und Quartier. Ziel des Piloten sei es, die Konzeptmaßnahmen auf ihre Praxistauglichkeit und Robustheit zu überprüfen – gerade auch mit Blick auf den kommenden Rechtsanspruch.

Evelin Klein stellte eine Reihe von Erkenntnissen aus dem Pilotprojekt vor. Sie betonte, dass innere Schulentwicklung Zeit brauche und nur in kleinen Schritten vorankomme, während der Ruf nach einer klaren Rahmengebung häufig groß sei. Ein wichtiges Entwicklungsthema sei die Elternarbeit, da Verständnis und Akzeptanz für neue Lernsettings und einen veränderten Schulalltag häufig noch fehlten. Daher sei die Beteiligung von Eltern bei der Weiterentwicklung von pädagogischen Konzepten ein Muss. Insgesamt gehe es im Ganztag nicht mehr nur um Kooperation, sondern um die Bildung von Verantwortungsgemeinschaften, die alle Akteur:innen und Gruppen einer Schule umfassen, durch Dialoge und im gemeinsamen Handeln. Evelin Klein konstatierte, dass sich die beteiligungsorientierte Praxis in Frankfurt insgesamt bewährt habe und ein klarer Kompass für Planungen geworden sei.

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie hier auf den Seiten der Stadt Frankfurt am Main.

Moritz Füller, verantwortlich für das Bildungsmanagement im Kreis Segeberg in Schleswig-Holstein und unter anderem für den Ganztag, die Fachkräfteentwicklung im pädagogischen Bereich sowie für Schulsozialarbeit, Digitalisierung in der Bildung und Übergänge zuständig, wies darauf hin, wie wichtig es sei, dass die Kommunen das Thema proaktiv angehen, den Ganztag in ihren Haushalts- und Personalplanungen berücksichtigen – und Austauschmöglichkeiten sowie Qualifizierungs- und Beratungsangebote schaffen. Wichtig sei zudem eine vertrauensvolle, landesseitig dauerhaft personell und finanziell abgesicherte Zusammenarbeit mit Unterstützungssystemen wie z.B. den Serviceagenturen Ganztag.

In seinem Impuls stellte er drei beispielhafte Maßnahmen vor, die der Kreis auf dem Feld der Ganztagsentwicklung umsetzt. So wurde gemeinsam mit den hauptamtlichen Volkshochschulen im Kreisgebiet das Qualifizierungsangebot „ZUKUNFTWEITERBILDUNG“ für pädagogisch Tätige im Bildungsbereich geschaffen. Damit sollten kurze Wege und regionale Angebote für eine möglichst breite Zielgruppe pädagogischer Fachkräfte geschaffen werden – denn es sei wichtig, dass Angebote nicht nur in der Landeshauptstadt, sondern auch vor Ort im Kreisgebiet stattfänden.

In einem weiteren Vorhaben, dem „Netzwerk Ganztag“, fördert der Kreis Segeberg seit 2020 aktiv die Vernetzung von Grundschulen, die noch gar keinen Ganztag anbieten sowie Grundschulen, die sich noch in ihrem Entwicklungsprozess auf dem Weg zur Ganztagsschule befinden. Es sei beabsichtigt, die Arbeit des Netzwerks im Jahr 2023 auszuweiten und mehrmals im Jahr fachliche Impulse sowie Netzwerkveranstaltungen anzubieten.

Zudem hat Moritz Füller gemeinsam mit seiner Kollegin Christin Hönemann aus dem Kreis Herzogtum Lauenburg und der Serviceagentur „Ganztägig lernen“ Schleswig-Holstein einen Qualifizierungskurs für Leitungskräfte zum Thema „Ganztag leiten“ entwickelt und erfolgreich aufgebaut. Der Kurs entwickelt eine Qualifizierungsperspektive für Fachkräfte im Bereich der Ganztagskoordination und ist seit Herbst 2022 als reguläres kostenpflichtiges Qualifizierungsangebot mit zwei Zertifikatskursen in der JugendAkademie im Kreis Segeberg für ganz Schleswig-Holstein gestartet.

Ausblick

In einer anschließenden intensiven Arbeitsphase im World-Café-Format wurden die zahlreichen mitgebrachten Fragen der Teilnehmenden sowie weitere Fragen und Diskussionsbedarfe, die im Rahmen der Impulse entstanden waren, zusammengeführt und in Kleingruppen intensiv diskutiert. Die Herausforderungen, damit verbundene Handlungsbedarfe, künftige Schritte und noch offene Fragen wurden auf großen Plakaten festgehalten und mit allen Anwesenden geteilt. So konnten die Teilnehmenden des Workshops eine Fülle an Inspirationen für ihre eigene Arbeit, Best-Practice-Beispiele aus anderen Regionen und Kontexten sowie konkrete Handlungsmöglichkeiten in ihren Arbeitsalltag mitnehmen. Die Wichtigkeit eines solchen Austauschs zwischen den vielfältigen Akteur:innen des Ganztags wurde von den Teilnehmenden immer wieder hervorgehoben.

In den intensiven Diskussionen entstand kein fertiges Rezept, mit dessen Hilfe sich nun alle Herausforderungen bewältigen lassen. Aber das war auch nicht zu erwarten. Dennoch sind – angeregt auch durch die drei Impulse – viele neue Ideen entstanden. Es ist deutlich geworden, dass es zwar viele Herausforderungen gibt, aber auch ein breites Wissen, auf das aufgebaut werden kann. Zugleich zeigte sich, dass viele offene Fragestellungen mit der Ganztagsentwicklung einhergehen. Die Verortung des Rechtsanspruchs bringt neue Verantwortungen mit sich und neue Perspektiven, die es auszuloten gilt. Die Themen sind vielfältig, aber gleichen sich doch auch über Ländergrenzen und Ganztagsschulmodelle hinweg. Gemeinsam Lösungen zu erarbeiten und dabei neue Wege zu entdecken, zeigt sich als besonders effektiver Ansatz.

Zum Ende eines erfolgreichen Workshoptages wagten Anna Margarete Davis, DKJS-Themenexpertin für Schulentwicklung und Ganztag, und Annekathrin Schmidt, DKJS-Themenexpertin für Persönlichkeitsbildung, einen Ausblick auf die Herausforderungen der kommenden Jahre:

„Der Rechtsanspruch ist ein Schlüssel dafür, dass mehr Kinder von ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangeboten profitieren. Wir wünschen uns, dass der Rechtsanspruch auch ein Katalysator ist, um die Qualitätsentwicklung weiter voranzutreiben. Eine qualitativ hochwertige Ganztagsbildung und -betreuung bietet Kindern die Chance, unabhängig von den Eltern – besonders auch von deren sozialer Lage – Interessen zu entwickeln, ihre Stärken und Talente zu entfalten und sich selbstbewusst und eigenverantwortlich im Sozialraum zu bewegen. Dieses Ziel können wir nur gemeinsam und mit dem Zutun aller Akteur:innen auf dem Feld der Ganztagsschule erreichen.“