Wenn die Schule aber mehr Zeit für Kinder erhält, muss sie dieses Mehr an Zeit aber auch in einem kind- und lerngerechten Zeitrhythmus pädagogisch förderlich nutzen (vgl. BURK 1998; HOLTAPPELS 1997).Während sozialpolitische Begründungslinien lediglich eine Betreuung bestimmter, sprich bedürftiger, Zielgruppen im Blick haben, zielen schulpädagogische Begründungslinien auf die quantitative Ausweitung pädagogisch gestalteter Lernzeit und die Verbesserung der Qualität des Lernens, also auf ein Mehr an Zeit zum Lernen und erweiterte Lernmöglichkeiten, aber auch auf die Entwicklung der Lernkultur und der Intensivierung von Förderung. Im folgenden Teil werden die in theoretischen Konzeptionen und in entwickelter Praxis erkennbaren Gestaltungsansätze von Ganztagsschulen beschrieben.
Pädagogische Gestaltungselemente von Ganztagsschulen
Theoretische Konzepte und bisherige Praxismodelle weisen auf folgende pädagogisch- konzeptionelle Gestaltungselemente (vgl. APPEL 1998; HOLTAPPELS 1994 u. 1995), die pädagogische Leitziele aufnehmen und möglicherweise grundlegende Qualitätsstandards hergeben:
- Intensivierung von Förderung, Optimierung von Lernchancen und Entwicklung von Talenten und Stärken bei allen Schüler/innen und Lernhilfen vor allem bei Lernschwächeren;
- Entwicklung der Lernkultur des Unterrichts zugunsten variabler Lehr-Lern-Formen und einer Differenzierung von Lernarrangements;
- Erweiterte Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten im Schulleben über projektartige Lernarrangements und Neigungsangebote in Arbeitsgemeinschaften und Kursen zur Entdeckung von Lernpotenzialen und Begabungen und Berücksichtigung von Schülerinteressen;
- Freizeitbereich mit offen-selbstbestimmten Formen von Erholung, Spiel und Bewegung und gebundenen Neigungsangeboten als Anregung zum selbstständigen Gebrauch von freier Zeit und Mediennutzung;
- Entwicklung von Gemeinschaftserleben mit Gelegenheiten und Erfahrungen für soziales und interkulturelles Lernen zugunsten einer stärkeren Identifikation mit der Schule, des Erwerbs sozialer Kompetenzen und verbesserter Sozialbeziehungen;
- Praxis von Partizipation und Demokratielernen im Schulleben als Feld für Schüler- und Elternmitwirkung, Übernahme sozialer Verantwortung, Entwicklung von moralisch-kognitiver Urteilsfähigkeit und demokratischer Gestaltungskompetenz.
Die Konsequenz aus den Defiziten im Lernbereich der Schule muss heißen: Wir brauchen ein Mehr an pädagogisch gestalteter Lernzeit. Dies ist zum einen über zusätzliche Förderzeiten mit Übung, Wiederholung und Vertiefung erreichbar, wobei die Hausaufgaben integriert werden. Förderung und Aufgabenstunden müssen an Fachunterricht angekoppelt und von Fachpersonal unterstützt sein, was eine intensive Begleitung der Lernentwicklung (möglichst mit Diagnosen und Förderplänen) ermöglicht. Solche Formen der Lernförderung benötigen wir im kognitiven, manuellen, sozialen und emotionalen Bereichen der Schülerentwicklung. Zum anderen bedarf es flankierend gezielter Unterrichtsentwicklung im Sinne einer Differenzierung von Lehr-Lern-Formen und einer Individualisierung von Lernzugängen. Dazu gehören auch Trainings in Lernmethoden, Arbeitstechniken und fachübergreifenden Kompetenzen, die aber nicht allein schon das Lernen verbessern.
Gleichzeitig sind im Unterricht und im Schulleben differenzierte Lern-Arrangements zu entwickeln, die vielfältige Lernzugänge und Lernwege, lebensnahe Erfahrungsbereiche und Lernformen mit Ernstcharakter eröffnen, die Unterricht anreichern und methodisch eine flexible und vielfältige Lernkultur schaffen. Dies setzt sich über den Fachunterricht hinaus fort, vor allem über ein gezieltes Programm an Arbeitsgemeinschaften einerseits und über Schulprojekte andererseits wie z.B. Schulchor, Schülerband, Schüleraustausch, 3.-Welt-Projekte, Anlage von Biotopen etc. Gerade Schulprojekte und Arbeitsgemeinschaften bilden vielfach das pädagogische Scharnier zwischen dem Lern- und dem Freizeitsektor und erlangen damit eine Schlüsselfunktion für die Verbindung von Unterricht und Erziehung. Projekte und AGs bieten die Chance, epochal angelegte und projektförmige Aktivitäten mit praktisch-eigentätigem und sozialem Lernen zu verknüpfen, wie etwa in der Theater-AG, in der Fotodokumentation, bei der Schüler-Friedensdemonstration, in der Schuldiskussion mit Asylbewerbern, bei einer Bürgerbefragung über Schulwegsicherung im Stadtteil. Unterrichtsinhalte und -formen lassen sich so ergänzen, anreichern und vertiefen. Schullebens-Aktivitäten sollen so Rückwirkungen auf den Unterricht haben oder sich aus dem Unterricht ergeben.
Die Förderung sozialen Lernens erfolgt zum einen über Freizeit, zum anderen über spezielle Lernarrangements und soziale Situationen: Der Freizeitbereich umfasst ein möglichst vielfältiges Wahlangebot an Arbeitsgemeinschaften und Kursen (gebundene Freizeit) einerseits und offenen Angeboten (ungebundene Freizeit) andererseits, um den unterschiedlichen Bedürfnissen, Interessen und Neigungen der Schüler/innen gerecht zu werden (vgl. v.a. dazu HOYER/KENNEDY 1978). Die Angebote bereichern insgesamt die unterrichtlichen Lernprozesse, in dem sie zusätzliche, aufbauende und neue Lern- und Erfahrungsfelder eröffnen; insbesondere können hier die gestalterischen, handwerklichen, musischen und sportlichen Fähigkeiten der Schüler/innen gefördert werden. In den offenen Angeboten werden Kindern im Rahmen von Spielpädagogik, Freizeit- und Medienerziehung Anregungen für entwicklungsfördernde Spiel- und Freizeitformen gegeben. Dies impliziert die pädagogische Anleitung zum selbstständigen Gebrauch von freier Zeit und zur kritischen Mediennutzung. Daneben dient die offene Freizeit in der Schule aber auch dezidiert der Entspannung und Erholung.
Aktives Schulleben fördert soziale Begegnung und soziales Miteinander. Es trägt über Gemeinsinn und Gruppenerfahrungen zur Entwicklung sozialer Kontakte und zur Stabilisierung freigewählter Freundschaftsbeziehungen der Schüler/innen ebenso bei wie zu verbesserten Sozialbeziehungen zwischen Schüler/innen, Eltern und Lehrer/innen. Insbesondere bietet das Schulleben dabei vielfältige Situationen für soziales Lernens. Dazu gehören soziale Gruppenarbeit, Trainingsformen, Selbsterfahrung, Feste und Projekte. Interkulturelle Vorhaben zielen hierbei auf Solidarität, Toleranz und Verständigung. In der Schulpraxis zahlreicher Ganztagsschulen wird im Schulleben Gemeinschaftssinn und soziales Lernen zudem über die Förderung sozialer Verantwortung für die Schulgemeinschaft entfaltet: Schüler/innen übernehmen pflichtgemäß oder freiwillig bestimmte Verantwortungsbereiche im Klassenraum, im Schulgebäude und in den Außenanlagen (z.B. Raumgestaltung) oder Aufgaben im Rahmen der täglichen Abwicklung des Ganztagsbetriebs (z.B. im Schülercafe und Kiosk, in Bibliothek und Materialausleihe).
Auszug aus dem Vortrag zum 2. Ganztagsschulkongress in Berlin am 22. September 2005 „Ganztagsschule – ein Beitrag zur Förderung und Chancengleichheit“
Der Vortrag wurde für eine bessere Nutzung in einzelne Kapitel untergliedert und steht Ihnen in folgenden Themen auszugsweise zur Verfügung!
Mehr Zeit für Kinder – öffnen
Bildungsnotstand- öffnen
Bestandsaufnahme in Ganztagsschule- öffnen
Personaleinsatz in der Ganztagsschule- öffnen
Perspektiven- öffnen
Zusammengestellt: Sabine Schweder
Datum: 11.12.2005
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