Lernen ist das große Vergnügen, sich Neues aneignen zu dürfen und zu können, neue Kompetenzen zu erwerben, dabei eine Selbstbestärkung zu erfahren, auch einen Stolz auf neu Angeeignetes, auf neu Verstandenes, auf neu Beherrschtes – das Vergnügen, die Welt immer besser zu verstehen. Das ist Lernen!
Auf diese Weise beschreibt Prof. Dr. Jörg Ramseger, Professor für Schulpädagogik und Leiter der Arbeitsstelle Bildungsforschung Primarstufe an der Freien Universität Berlin, Lernen.
Was ist Ihr Blick auf eine gute Ganztagsschule?
Ich argumentiere zunächst immer mit der „Risikoform“. Die Risikoform ist die „verlängerte Halbtagsschule mit Suppenausgabe“ und irgendwelchen additiven Angeboten, womöglich noch von irgendwelchen billigen Anbietern, womöglich nur Volunteers und keinen Profis – unter der Maßgabe, dass die Kinder bis 16 Uhr oder länger bewacht und beschäftigt werden müssen: Beschäftigungstherapie und Hausaufgabenüberwachung als Ergänzung zum „eigentlichen“ Unterricht, der überwiegend vormittags angesiedelt bleibt. Das ist sozusagen das absolute Negativbild von Ganztagsbeschulung.
Das gibt es leider noch sehr häufig in Deutschland bei Schulen, die nicht verstanden haben, dass sie eine sehr große Chance hätten – gebundene Ganztagsschulen übrigens noch eher als offene Ganztagsschulen. Die Chance würde ja darin bestehen, Lernangebote in einem rhythmisierten Tagesplan über den ganzen Tag zu verteilen und die gute Mischung zu finden: die optimale Komposition aus formellen, halbformellen und informellen Lernangeboten. Und das ist etwas, was zunächst nicht in den Köpfen derer ist, die Ganztagsschulen öffentlich propagieren. Die tun das nämlich oft aus einer primär sozialpolitischen und nicht aus einer primär pädagogischen Motivation heraus: erstens, um die Mütter für den Arbeitsmarkt freizusetzen von der Kinderbetreuung – die Männer sind davon ja sowieso schon immer freigesetzt – und zweitens, um kompensatorisch zu wirken für Kinder mit besonderen Benachteiligungen. Damit wird aber die ganze Schulform eigentlich schon von vornherein diskreditiert, dass sie als „Erste-Hilfe-Einrichtung“, d.h. als Betreuungseinrichtung und nicht als Bildungseinrichtung gedacht und geplant wird. Also gerade nicht als eine vom Grund des Lernens und von der Produktion und Aufrechterhaltung von Lernfreude her gestaltete Umwelt, in der Kinder auch mal ihren eigenen Sachen und Interessen optimal nachgehen können und zwar auf einem anspruchsvollen Niveau.
Ich denke tatsächlich, wenn im Kontext von Schule der Begriff „Betreuung“ statt „ganztägige Bildung“ benutzt wird, wird schon etwas falsch gemacht. Denn von Staats wegen „betreuen“ muss ich ja nur eine hilflose Person, aber doch nicht ein lernfähiges Kind. Das will doch die Schulzeit nutzen, um Bildung einzusaugen, wenn wir es nicht durch unsere Schul- und Unterrichtskultur daran hindern.
Womit assoziieren Sie „Lernen“?
Lernen ist das große Vergnügen, sich Neues aneignen zu dürfen und zu können, neue Kompetenzen zu erwerben, dabei eine Selbstbestärkung zu erfahren, auch einen Stolz auf neu Angeeignetes, auf neu Verstandenes, auf neu Beherrschtes – das Vergnügen, die Welt immer besser zu verstehen. Das ist Lernen!
Und wie wirkt sich das auf die Lernkultur einer Ganztagsschule aus?
Wir müssen aufpassen, dass die Schul- und Unterrichtskultur nicht in Gegensatz gerät zu dem Bildungsdrang der jungen Menschen! Es wirkt sich dergestalt aus, dass gute Ganztagsschulen in erster Linie vermehrt Raum bereitstellen und Herausforderungen bieten für eigenaktives und produktives Lernen: Lernen, bei dem ich Verantwortung übernehme, dass etwas zustande kommen muss, von dem alle etwas haben; etwas, das nicht nur für mich selber ist; Lernen, mit anderen zusammen etwas herzustellen, etwas (im wörtlichen und im übertragenen Sinn) „auf die Bühne zu stellen“, etwas zu zeigen, etwas zu hinterfragen, womöglich auch in Zweifel zu ziehen. Um dann auch Dialoge in der Lerngemeinschaft voranzubringen, die das eigene Denken herausfordern und mich zwingen, auch präzise zu werden; Dialoge, die mich zwingen, mich mit neuen Gedanken, mit den Gedanken anderer Menschen auseinanderzusetzen. Und das am Ende noch in eine Form zu bringen, in der es auch präsentiert werden kann, einen äußeren Ausdruck findet, wo ich sagen kann: „Ich als Kind, ich als Schüler, ich als lernendes Subjekt, habe das produziert. Das ist mein Werk!“
Diese neue Lernkultur muss dann natürlich auch einhergehen mit einer neuen Kultur der Leistungsbeurteilung. Eine Leistungsbeurteilung, die nicht mehr zensiert, sondern die eine Werkkritik darstellt, bei der das Individuum von professionellen Pädagoginnen und Pädagogen eine sachliche und fachliche wertschätzende Rückmeldung bekommt, was es Großartiges geleistet hat und wo und wie es sich noch perfektionieren kann beim nächsten Schritt.
Herr Prof. Dr. Ramseger, Sie betonen das Konzept des entdeckenden Lernens. Wieso passt das Konzept der Ganztagsschule damit so gut zusammen?
Als wir 1979 an der Wartburgschule in Münster die erste offene Ganztagsgrundschule des Landes Nordrhein-Westfalen gegründet haben, war es das Erste, alle Lehrmittelräume zu öffnen, die Lehrmittel aus den Sammlungen heraus zu holen und mitten in die Klassenzimmer zu stellen, einschließlich der Physikgeräte, einschließlich der Chemikalien, die vom Chemieunterricht der Hauptschule drin standen, alles offen hin zu stellen und den Kindern greifbar vor Augen zu stellen. Da hing das Werkzeug, da stand ein Globus, da standen die Atlanten, da standen Bücher – keine Schulbücher, sondern Sachbücher, Erwachsenenbücher! – das heißt Dinge, die den Geist anregen.
Ich stelle mir eine gute Ganztagsschule so vor, dass sie viele offene Werkstätten und Labore hat und die Schülerinnen und Schüler sich anregen lassen können: Was gibt es in der Biologie zu entdecken, was gibt es in der Physik, was gibt es in den Sprachen, was gibt es in den Künsten, in der Mathematik? Und dass sie hingehen können wie an ein Frühstücksbuffet und sagen: Ich möchte diese Woche Seidenmalerei ausprobieren, ich möchte im nächsten Halbjahr mal Biochemie versuchen, ich möchte übernächsten Monat mal an einem Tanzkurs teilnehmen oder auch: Ich will meine Defizite in Englisch in einem Intensivkurs überwinden. Und dass ein solches Angebot von Künsten und Wissenschaften für die Kinder bereit steht, dazu eine sehr gute Bibliothek und eine sehr gute Mediothek, ein Angebot an angenehmen Räumlichkeiten, Dinge, die den Geist wecken, Dinge, die mich dazu bringen, Fragen an die Welt zu stellen. Und Lehrer, die den Schülern zur Seite stehen und sagen: „Okay, du hast eine biologische Frage an die Welt, ich bin Biologielehrer, guck mal dahin, da findest Du Antworten! Und schau, wen wir noch in die Gruppe holen können, damit wir möglichst viel zusammen lernen können!“
Schule als eine große Angebotskultur, die ständig neue Ideen für den Geist bringt und mich dauernd wieder zwingt, was Neues zu sehen und zu staunen, aber auch immer die Möglichkeit bereit stellt, diesem Staunen in einem systematischen Lerngang nachzugehen.
Die Schule Salem operiert ja seit 100 Jahren mit dem Spruch von Kurt Hahn „Werde, der Du bist!“ Den Spruch finde ich gut, weil eine gute Ganztagsschule die Chance hätte, die Kinder jeden Tag auch zu fordern und zu sagen: „Was ist heute Dein Projekt?“ Und wenn sie das täte, dann würde sie die Kinder in die Verantwortung für ihre eigenes Lernen nehmen und würde gleichzeitig den Kindern auch den Stolz geben, ein eigenes Projekt zu verfolgen. Und dann gibt es vielleicht weniger dieses Zurücklehnen und Aussteigen, wenn ich merke: Ich arbeite ja für mich! Dieser Gedanke ist nicht immer allen Kindern bewusst. Aber wenn die Pädagoginnen und Pädagogen sie täglich fragen: „Was ist dein Projekt heute?“ oder „Was ist dein Projekt für den nächsten Monat?“, dann haben die Schüler eine Chance zu sagen: „Ich habe das oder das vor.“ Und dann brauche ich Lernbegleiter, dann brauche ich auch Herausforderungen, aber ich merke. „Es ist mein Ding!“ Und es ist wichtig, dass die Kinder das spüren! Und wenn Schule das nicht wenigstens einmal in der Woche vermittelt, dann ist sie hoffnungslos. Ganztagsschulen hätten mehr Möglichkeiten, so etwas zu vermitteln, als Halbtagsschulen mit ihren eng gedrängten Zeitplänen.
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