„Lernbehinderung ist die Unterbrechung der erwarteten Kommunikation im Unterricht“
„Integrationspädagogisch ist Deutschland […] ein Entwicklungsland.“ (S.38) und ein inklusiven Bildungssystem scheint noch in weiter Ferne. Im Zuge der Debatten über ein neues Schulwesen setzt sich die Sonderpädagogin und Erziehungswissenschaftlerin Sabine Knauer mit Konzepten der integrativen Pädagogik auseinander, und schreibt Ganztagsschulen dabei besondere Chancen zu. Auf dem Weg zu einer inklusiven Schule, so Knauer, muss das Rad nicht neu erfunden werden. Bereits die Integrationspädagogik der 80er Jahre entwickelte Ansätze, die heute als vermeintliche reformpädagogische Neuheiten im Bildungswesen präsentiert werden.
Die Autorin geht mit ihrer Leserschaft zum Ausgangspunkt integrativen Denkens zurück und deckt alltägliche, exklusive Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen im Miteinander auf. Sie verfolgt den Anspruch, neben der Analyse des Behinderungsbegriffs auch Lernarrangements aufzuzeigen, die der Ganztagsbildung ideale Anknüpfungspunkte für eine integrative Pädagogik bieten. Gleichzeitig werden systemische Zwänge benannt, die auch in der Ganztagsschulorganisation die Integration aller Schülerinnen und Schüler in ihrer Entwicklung noch behindern, so die frühe Selektion, die äußere Differenzierung oder das Sitzenbleiben.
Bedeutung von Kommunikation
Lehrenden wird die Bedeutung der zwischenmenschlichen Kommunikation, ihre Voraussetzungen und Anforderungen verdeutlicht. Lernbehinderung sei die „Unterbrechung der erwarteten Kommunikation im Unterricht“ (S.90), deren Ursachen in fehlenden gemeinsamen Deutungsmustern zwischen Lehrkräften und Schülern liegen (S.79). Nicht das Kind ist behindert, sondern seine Umgebung behindert das Kind. Wenn Pädagoginnen und Pädagogen an Ganztagsschulen deren Konzepte so gestalten wollen, dass sie den Aufwachs- und Lernbedürfnissen von Kindern und Jugendlichen entsprechen, geben gerade diese Ausführungen wichtige Anregungen. Denn es können eigene exklusive Handlungen reflektiert werden. Außerdem erhält der Leser/die Leserin Anregungen, wie Lernarrangement aussehen sollten, die den individuellen kindlichen Bedürfnissen entsprechen.
Unterrichts- und Schulkonzepte abstimmen
Wichtige Impulse, die von einer inklusiven Ganztagsschule ausgehen können, sind zum Beispiel die Öffnung in den Stadtteil, die Integration von außerschulischen Partnern und damit die von der Integrationspädagogik seit langem geforderte Lebensweltorientierung von Schule. Dank Knauers Ausführungen wird deutlich, dass die Qualität von Ganztagsbildung daran gemessen werden kann, inwiefern sie integrationspädagogische Ziele verfolgt, also der immerwährende Kreislauf durchlaufen wird, die Unterrichts- und Schulkonzepte auf ihre integrative Funktion zu hinerfragen. Für die Unterstützung individualisierten Lernend stellt Knauer passende Instrumente und Methoden vor, um Lernmotivationen, Lernausgangslagen, Interessen und individuellen Ressourcen eines jeden Kindes zu identifizieren.
Die Autorin bezieht die schulischen Rahmenbedingungen mit in ihre Überlegungen ein. Sie appelliert an die Personengruppen, die entsprechenden gesellschaftlichen Einfluss haben, den Selektionstendenzen der Bildungspolitik entgegenzuwirken. Sie zeigt auf, wo im deutschen Schulsystem verhindert wird, dass ein heterogenes Gefüge entsteht und so die Erfahrung mit dem Fremden ausbleibt. Gut nachvollziehbar schildert sie Exklusionsmechanismen, wie Notenvergabe, Sitzenbleiben oder Sonderschulüberweisung, die defizitorientierter Platzierungsdiagnostik entspringen und das Ziel verfolgen, besonders homogene Lerngruppen herzustellen.
Ein notwendiges Buch, das die Prinzipien der Integrationspädagogik auf die Ganztagsschulpraxis zu übertragen vermag und der Leserschaft nicht nur einen theoretischen Überblick verschafft, sondern Sie gekonnt mit anwendungsorientierten Instrumentarien versorgt. Bleibt zu hoffen, dass der Appell, Ganztagsschulen für alle Kinder und Jugendlichen zu gestalten, Gehör findet: Packen wir´s an.
Melike Yar
Programm-Mitarbeiterin
Themenatelier Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen
"Ganztägig Lernen"
Datum: 15.05.2009
© www.ganztaegig-lernen.de