Diskursives Lernen im Web 2.0

 

 

Ideen für mehr! Tipps für den ganztägigen Unterricht

 

Die schriftlich ausgetragene Diskussion wird für die Beteiligten Reflexionsbasis für die Entwicklung von kommunikativen Fähigkeiten und Sachverständnis. Jugendliche aus zwei verschiedenen Schulen (das Staatliches Gymnasium München/Moosach und das Paulsengymnasium in Berlin) beteiligten sich an einer altersübergreifenden Online-Debatte, um die aktuellen Wirtschaftslage in Deutschland zu diskutieren. Es galt Fakten aus eigenen Beobachtungen, Medienpositionen und eigene Standpunkte, Ideen und Utopien zu debattieren. Die jugendliche Diskutanten orientierten sich an der provozierenden Frage  „Die Finanzkrise – Risiko für den „Generationenvertrag“? und waren damit herausgefordert die Auswirkungen der Finanzkrise zu interpretieren und die in der Öffentlichkeit diskutierten Lösungskonzepte zu bewerten, um  mögliche Folgen für die heranwachsenden Generationen abzuleiten.

Unterricht oder Angebot

In Berlin wurde die Debatte direkt in den Leistungskurs Politik integriert, in München als Angebot im Freizeitbereich. In Berlin waren die Schüler in der 12. anderenorts in der 10. Klasse. Der Austausch fand seine Heimat auf einer eingerichteten Plattform bei SCHOLA-21. Diese war nur über eine Zertifizierung für die Beteiligten erreichbar. So konnten die Schüler unter ihrem vollständigen Namen debattieren und operierten nicht anonymisiert. „Das war Grundvoraussetzung für die Integration in den Unterricht. „Dadurch, dass wir in einem geschützten Raum diskutiert haben und der vollständige Name an jeder Äußerung stand, konnte sich keiner hinter einer Anonymität verstecken. Das führte dazu, dass es nicht zu einer `Nonsens`-Diskussion kam“, resümiert ein Schüler zum Abschluss der Debatte.

Nebenwirkung des Web 2.0

„Gänzlich offene Foren sind für den unterrichtlichen Diskurs ungeeignet, da meine Schüler ihre Identität schützen müssen bzw. ich als Lehrer die Verantwortung dafür trage.“ Die offenen Angebote des Web 2.0 bieten eine verlockende Funktionalität, die jedoch damit einhergeht, dass schülerbezogene Daten „ins Netz rutschen“ und dort meist unwiderruflich verbleiben. Als lästige Nebenwirkung drängt sich oftmals Werbung und schlechtes Design auf. Nicht unwichtig ist auch, dass „Unbekannte“ beteiligt sind. „Schüler sollen die Chance haben Irrwege zu gehen und ich als Pädagoge begleite sie dabei gerne, aber nicht in aller Öffentlichkeit“, so Ulrich Mehrer. 

Mit einem Auftakt an der Schule in München wurde ein Teil der Schüler miteinander bekannt. Mit diesem Treffen machten sich die Schüler mit der Funktionalität der Plattform vertraut, jedoch mit sofortiger Wirkung auf die gemeinsam zu führende Diskussion. Die Frage bot unterschiedliche Ansätze und diese entfalten die Schüler bereits mit Hilfe der vorhandenen Werkzeuge. Mittels kooperativer Methoden gliederten die Jugendlichen das Diskussionsfeld und beschlossen, anhand der aufgereihten Teilfragen sich als Diskutanten zu spezialisieren. Mit der Zuordnung in eine der gesetzten Diskussionsgruppen fand Interessensgruppen einen zusätzlichen „Raum“, um Thesen zu finden, Material zu hinterlegen und Standpunkte vorzuarbeiten. Aus eigenem Antrieb hätten sich die Schüler nicht entschieden, die Diskussion auf diese Weise zu vertiefen. Neben der schriftlichen Diskussion im Forum griffen die Diskutanten auf die eingerichteten Speicherfelder von „Interessengruppen“  (Arbeitsgruppen) zu.  Von diesen ausgehend wurden Argumente vorbereitet oder vertieft.

Gedanken strukturieren

Damit erweiterte sich die eigentliche Diskursumgebung. „In dem ich meine Gedanken und Ausführungen zusätzlich strukturieren konnte und gelernt habe, diese sich daraus entwickelnde Power meiner Argumente einzusetzen.“, so ein Schüler. Nicht alle Schüler zeigten eine gleich hohe Bereitschaft mit dieser detaillierten, aber vor allem aufwendigeren Arbeitsweise in die Diskussion zu gehen. Die Verlockung lediglich im Forum zu arbeiten war groß.  Um jedoch diesen Fall diskursiven Lernens als Unterricht geltend zu machen, ist es für die Beteiligung unumgänglich, die Argumententwicklung transparent zu machen.  Das ist der Stoff für die pädagogische Begleitung.

Die Funktionsweise des Forums folgt den herkömmlichen Mustern. Ein Argument wird gespeichert und die Diskutanten können über „Kommentarfelder“ ihre Sichtweisen, Fragen, Provokationen und Interessen zum Ausdruck bringen. Dadurch entstehen Sprachketten, die sich aus Beiträgen unterschiedlicher Diskutanten zusammensetzen. Durch Betrachtung lassen sich Rückschlüsse auf Sachlichkeit, Sprachqualität, Überzeugungskraft und damit auf ein Diskussionsvermögen einzelner schließen.

Reflexion des Schülers begleiten

Mit der sich bietenden Gelegenheit entwickelten die Jugendlichen ihre Fähigkeit zur Diskussion auf der Ebene eines schriftlichen Austauschs, mit dem die Beteiligten ihre kommunikativen Fähigkeiten schriftlich repräsentierten. Der pädagogischen Begleitung kommt es zu diese Qualität rückzumelden und die Reflexion des Schüler aktiv zu begleiten. „Zunächst ging es um die schriftlichen Äußerungen, die zusammengenommen zu einem Medium, was die Analyse und Reflexion der kommunikativen Kompetenz unser Schüler offenlegte, wurden.“. Das Forum avancierte damit für die Lehrer, aber auch für die Jugendlichen selbst, zum Zentrum der Analyse von Kommunikationsprozessen und deren Qualität und damit zum „Reflexionsmedium“. Die Konzeption versteht sich als Teil eines Methodenrepertoires für einen sprachförderlichen Unterricht. Allerdings geht es dabei weniger um die Entfaltung mündlicher Sprachkompetenz, statt schriftlicher.

Überdenken der Argumente des anderen

„Zuweilen entpuppte sich das Szenario als bizarr, da wir auf die Äußerungen unseres Nachbars in der Klasse Bezug nahmen.“, so ein Schüler aber: „Vorteil war, dass man die Meinung des anderen schriftlich vor sich hatte und es einfacher wurde, Argumente zu überprüfen und zu überdenken. Auf dieser Basis war es leichter, fortführende Argumente zu überlegen.“.   „Durch den schriftlichen Austausch gab es ausreichend Zeit zum Überdenken der Argumente des anderen und das hat meine Toleranz gegenüber den anderen Meinungen doch wesentlich entwickelt. Ich habe es dann sogar bewundert, das der in der Kontroverse blieb, weil ich mich dadurch herausgefordert fühlte sachlich zu `kontern`.“ meint eine Schülerin. 

Die schriftlich geführte und zusätzlich nicht synchron verlaufende Debatte zog jedoch einen nicht zu übersehenden Tempoverlust nach sich. Das „Ausbremsen“ förderte jedoch maßgeblich die sachliche Auseinandersetzung und gab auch den zurückhaltenden Schülern die Chance zur Beteiligung.  „Ich konnte mich als eher `ruhiger` Schüler besser durchsetzen und habe die Debatte dadurch wesentlich mitbestimmt!“, so die Sicht eines Schülers. Die begleitenden Lehrer meinen: „Falls sich meine Schüler durch die Argumentation eines anderen überfordert fühlten, bot sich immer  eine Pause zugunsten einer Argumentationsentwicklung.“. Die Gesprächsfähigkeit als solche, wurde in dieser Form des miteinander Austauschens vernachlässigt und sollte durch das Abschlusspodium herausgefordert werden.

Verantwortung beweisen

Mit dem Auftakttreffen stellten die beteiligten Schüler selbstständig folgende Diskurs- und Qualitätsregeln auf:  „Nur mit erarbeiteten und fundierten Ergebnissen Thesen und Kommentare setzen. Hinweise auf Augenhöhe geben und Verantwortung für eine zielorientierte Diskussion übernehmen.“ Diese aus Sicht der begleitenden Lehrkräfte beruhigenden Regeln der Schüler zeigen, wie ernsthaft sich diese der sich bietenden Herausforderung stellen möchten.  Die Schüler erbaten sich Zurückhaltung bezüglich einer sachlichen Beteiligung seitens der Lehrer. „Wir wollen uns in diesem Fall testen und zwar, ob wir in der Lage sind eine Diskussion auf Qualität zu halten, ohne dass die Lehrer sich einmischen – quasi wäre das ein Angebot für einen freien Bewegungsraum, um zu beweisen, dass wir Verantwortung übernehmen.“

„Schriftlich" versus „Mündlich"

Das Abschlusspodium setzte die Diskutanten „unter Druck“ in einem mündlichen Diskurs die Argumente zu verteidigen. Die Schüler trafen sich dafür in Berlin. Mit Hilfe eines unabhängigen Moderators wurden Argumente erneut in den Raum und damit zur Diskussion gestellt. Die Schüler erlebten sich in direkter Konfrontation mit den anderen. „Auf einmal war alles ganz anders. Die Gedanken schossen durch den Kopf und ich hatte Mühe meine Ruhe zu bewahren. Ich habe mich dann lieber nicht zu Wort gemeldet, weil ich dann vielleicht die Kontrolle verloren hätte.“, so eine Schülerin.

Mit dem Web 2.0 bieten sich neue Freiräume, die Medien nicht nur zu Instrumenten organisierten Lernens zu machen, sondern den Jugendlichen Ausdrucks- und Artikulationsinstrumente ihrer eigenen Interessenslagen zur Verfügung zu stellen. Der Fall ist ein Beispiel dafür, dass sich den Jugendlichen neue Handlungsmöglichkeiten erschließen und gleichzeitig die Lernkultur verändert ist. „Das Projekt hat mir gezeigt, dass das Internet mehr Möglichkeiten zur vernetzten Kommunikation bietet, als allgemein bekannt ist. Unsere Lehrer sollten sich öfter dazu entschließen, uns auf diese Weise zu fordern“, so ein Schüler.

Hinweis: Auch andere Plattformen (Lo-net, Etwinning) sind für diesen Unterricht geeignet. Mehr zum Gebrauch von SCHOLA-21 finden Sie unter der kostenfrei zu bestellenden Arbeitshilfe: "Neue Chancen für Projektlernen".

Kostenfrei bestellen

"Neue Chancen für Projektlernen"
Deutsche Kinder- und Jugendstiftung
Sabine Schweder
ISBN 978-3-940898-04-3


 


Datum: 21.08.2009
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