Wie funktioniert erfolgreiches Lernen? Ein Gespräch mit Gerhard Roth

Im Rahmen des Symposiums "Schulen im Schloss", zu dem Daniela Schadt, die Schirmherrin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), ins Schloss Bellevue eingeladen hatte, sprach Prof. Dr. Gerhard Roth über nachhaltige Lernprozesse und darüber, was sich aus der Hattie-Studie lernen lässt. Als wissenschaftlicher Pate stand er beim Symposium dem Workshop "Allen gerecht werden. Individuell lernen und fördern" zur Seite. 

Ein Interview mit Prof. Dr. Gerhard Roth

Wie schauen Sie als Hirnforscher auf die Ergebnisse der Hattie-Studie? 

Gerhard Roth Die Aussagen der Hattie-Studie bestätigen: Lernen ist eine Vertrauenssache. Lehrerinnen und Lehrer müssen vertrauens- und glaubwürdig sein. Deutlicher gesagt: Wenn mir jemand was erzählt, dem ich nicht intuitiv glaube, dann nehme ich das nicht nachhaltig in mein Gedächtnis auf. Das ist ein wichtiger Grund,
„Lernen ist erfolgreich, wenn ich das, was ich lerne, langfristig behalte und nutzen kann.“ 
 
 
Daniela Schadt (m.) mit Gerhard Roth (r.), Ludwig Stecher und Jutta Allmendinger (l.)
 
Gerhard Roth ist Professor für Verhaltensphysiologe und Entwicklungsneurobiologe an der Universität Bremen und leitet das dortige Institut für Hirnforschung. In seinem Buch "Bildung braucht Persönlichkeit - Wie Lernen gelingt" diskutiert er über Qualität von Lernen und Lehren.

warum die Persönlichkeit von Lehrerinnen und Lehrern in der Schule eine so wichtige Rolle spielt. Somit ist die Beziehung zwischen Schülern und ihren Lehrpersonen ein entscheidender Faktor bei der Betrachtung des Lernens. Deren Qualität entscheidet über Lernerfolge. Das ist in der Vergangenheit nicht in der Weise gesehen worden, entweder hat man nur die Lehrerinnen und Lehrer betont oder nur die Selbstregulationsfähigkeit von Schülerinnen und Schülern gesehen.

Sie besuchen regelmäßig Schulen in und um Bremen. Welche Fragen stellen sich in der heutigen Schulwirklichkeit? 
 
Gerhard Roth Seit zehn Jahren setze ich mich in Klassenzimmer, nehme am Unterricht teil und sehe, dass die Bereitwilligkeit, Dinge zu verändern, sehr hoch ist. Aber bestimmte Grundfehler werden nicht vermieden. Ich beobachte, dass an vielen Schulen Lehrerinnen und Lehrer nicht oder nur selten miteinander reden, dass man am 45-Minuten-Takt und veralteten Methoden festhält. Die klassische Unterrichtsstunde verhindert einfachste pädagogische und didaktische Dinge – das ist eine Tatsache. Hinterfrage ich diese Zeitgestaltung, antworten Lehrerinnen und Lehrer sofort, dass ihnen das auch nicht gefällt. Sie geben zu, dass in so knapper Zeit kein Anschluss an bereits vorhandenes Wissen geknüpft werden kann, vielfältige Methodenangebote und wichtige Wiederholungen ausbleiben. Gute Lehrerinnen und Lehrer wissen um diese Defizite, finden jedoch oft nicht den Mut, sich zusammenzuschließen und der Schulleitung zu sagen: Das machen wir jetzt anders! Ich gehe davon aus, dass es nicht an fehlenden Ideen liegt, sondern am Mut zur Zusammenarbeit und Ermunterung durch die Schulleitung. Schülerinnen und Schüler warten nur darauf, dass etwas passiert. Ihnen darf man nicht übelnehmen, dass sie selbst nicht viel tun können. Vielmehr müssen ihre Lehrerinnen und Lehrer die Verantwortung übernehmen und sagen: Wir stehen zusammen, wir packen es an und versuchen das zu machen, was wir schon immer machen wollten. Ich gehe davon aus, dass die Schulleitung relativ schnell sagt: Ihr dürft!
 
Wie funktioniert erfolgreiches Lernen? 
 
Gerhard Roth Lernen ist erfolgreich, wenn ich das, was ich lerne, langfristig behalte und nutzen kann. Dagegen ist der Wirkungsgrad deutscher Schulen sehr gering. Nur wenige Jahre nach dem Abitur wird in Mathematik der Dreisatz nicht mehr beherrscht und ebenso verhält es sich mit Englisch oder Französisch. Erfolgreiches Lernen zu ermöglichen ist eine der herausfordernden Aufgaben von Lehrerinnen und Lehrern und basiert auf einer guten Beziehung, die durch positive Feedbackprozesse geprägt wird. Darüber hinaus spielen die Faktoren Motivation, Anschlussfähigkeit des Stoffes, Fleiß und Wiederholung eine zentrale Rolle. Leider kann man den Heranwachsenden nicht einfach sagen: Nun mache es selbst. Das selbständige Lernen ist voraussetzungsreich und muss in der Schule angebahnt werden. Die Befähigung zur Selbsttätigkeit versteht sich als ein mühsamer Weg von der reinen Instruktion zur reinen Selbsttätigkeit. Es gilt, die Schülerinnen und Schüler darin zu befähigen, letztlich selbständig lernen zu können. Ein Leben lang. Das ist dann Lernerfolg.
 
John Hattie empfiehlt heutigen Schulen das Prinzip „Weniger ist mehr.“ Wie deuten Sie diesen Anspruch aus hirnphysiologischer Perspektive?
 
Gerhard Roth Beim Lernen arbeiten wir anfangs mit nur einem Teil unseres Gehirns – dem Arbeitsgedächtnis. Nur was in diesem Bereich sinnhaft und gestaltet verarbeitet wird, geht ins Langzeitgedächtnis über. Das Arbeitsgedächtnis ist nicht sehr belastbar und überdies sehr stressanfällig. Die Menge entscheidet, Pausen sind wichtig, Wiederholungen notwendig, unterschiedliche Lernzugänge und Lernen durch selbständiges Handeln unterstützen die erfolgreiche Arbeit dieses Teil des Gehirns. Das Arbeitsgedächtnis ist beim Lernen der kognitive und emotionale Flaschenhals. Diesen gilt es zu durchschiffen, und das bedingt eine didaktisch versierte Konzeption von Unterricht. Das müssen die Lehrerinnen und Lehrer im Griff haben. Dabei gilt: nicht nur weniger, sondern auch langsamer ist mehr. Das ist wie auf der Autobahn: Bildet sich ein Stau, gilt es langsamer und nicht noch schneller zu fahren.
 
Wie gestalten sich Lernprozesse, die an ihrem Ende selbständiges Lernen ermöglichen? Welche Chancen für erfolgreiches Lernen bieten sich durch die Ganztagsschule?
 
Gerhard Roth Selbständiges Lernen ist am Anfang ein Lernen unter Anleitung der Lehrerinnen und Lehrer. Der Schüler muss – das gilt übrigens für Studierende genauso, ob hochbegabt oder nicht – erst einmal lernen, wie man lernt. Was ist dabei wichtig? Zunächst geht es um intensive Schulungen und dann um einen gelungenen Rückzug. Phasen der Selbstanleitung und Selbstgestaltung nehmen zu. Also es ist ein langer Weg von der reinen Instruktion zur Selbstkonstruktion, und er muss gemacht werden und das kann man nur in der Ganztagsschule. Interessanterweise steigt mit jedem Schritt in die Selbständigkeit die Intensität des Lernens und damit der Lernerfolg im Allgemeinen. 
 

 
 
Interview von Dr. Sabine Schweder, Universität Greifswald, 28.10.2013
 
 
 
25.11.2013
www.ganztaegig-lernen.de