Zusammen sein und gemeinsam Selbständigkeit lernen

Die Arbeitsgruppe "Ganztagsschule" des Veit-Ludwig-von-Seckendorff-Gymnasiums, ist überzeugt, dass an modernen Schulen Kompetenzlernen in den Vordergrund rücken muss.

Das Lebensmittelgeschäft wartet auf Kunden, schon länger. Es gibt alles, aber von allem nur sehr wenig. Drei Tüten Puddingpulver sind fächerförmig im Regal angeordnet. Die Leere ist spürbar, hier im Laden und draußen auf der Straße, die direkt auf den schönen Marktplatz von Meuselwitz führt. Das andere Ende der Rathausstraße in der kleinen Stadt in Thüringen füllt sich jedoch schnell mit Leben – pünktlich mit dem lauten Ton der Schulglocke. Sonnenschein, da nutzen die meisten der rund 380 Schülerinnen und Schüler des Veit-Ludwig-von-Seckendorff-Gymnasiums ihre Pause für Tischtennis oder zum Balancieren auf Slacklines.

Kompetenzlernen sprengt den 45-Minuten-Takt

Veit-Ludwig-von-Seckendorff-Gymnasium
Rathausstraße 16
04610 Meuselwitz
 
Bundesland: Thüringen
Gebundene Ganztagsschule
 

Zwanzig Minuten sind vorbei. Die Siebt- bis Zwölftklässler gehen zurück ins Hauptgebäude, die fünften und sechsten Klassen ins kleinere Haus nebenan. So alt das Mauerwerk der beiden Gebäude wirken mag, so frisch und neu kommen die Lehrmethoden daher, die 35 Lehrkräfte und drei Lehramtsanwärter in ihnen praktizieren. „Das Wissen verdoppelt sich alle fünf Jahre, das kriegen wir gar nicht mehr in die Köpfe der Kinder rein“, meint Jutta Maria Steinert, die Schulleiterin. „Die Schüler müssen lernen, die Erkenntnisse zu filtern, zusammenzufassen und zu präsentieren. Das geht am besten mit kooperierenden Lernmethoden“, sagt die Direktorin. Weil sich diese Art des Unterrichts leichter in 90-Minuten-Blöcken umsetzen lässt, finden sich Doppelstunden so oft wie möglich auf den Stundenplänen aller Jahrgangsstufen. Gleichzeitig arbeiten die Lehrkräfte daran, Wissen Fächer übergreifend zu vermitteln.

Jürgen Noth, der Leiter der Arbeitsgruppe Ganztagsschule des Veit-Ludwig-von-Seckendorff-Gymnasiums, ist überzeugt, dass an modernen Schulen Kompetenzlernen in den Vordergrund rücken muss. „Wir wollten Schule verändern, weil wir gemerkt haben, dass die Art des alten Unterrichts überholt ist“, erklärt er.  „Deshalb haben wir 2007 mit dem offenen Ganztag begonnen. Das Netzwerk Ganztagsschule hat uns viele Impulse und Ideen gegeben, um ab dem Schuljahr 2010/2011 den Schritt zur gebundenen Ganztagsschule zu gehen“, so Jürgen Noth. Doch diesem Weg können nur die je drei fünften und sechsten Klassen des Gymnasiums folgen. „Das Pensum in den höheren Jahrgängen und die Busfahrpläne verschaffen den Kindern sowieso einen sehr langen Tag, den wir nicht noch voller machen können“, erklärt Jutta Maria Steinert.

Ganztagsschulen haben es in Thüringen schwer

Das Veit-Ludwig-von-Seckendorff-Gymnasium hat für ihr Veränderungsvorhaben im Rahmen der Mitarbeit im Netzwerk Ganztagsschule eine Zielvereinbarung geschlossen.

Die gebundene Ganztagsschule für die beiden unteren Jahrgänge - ein Ziel, das nicht einfach zu erreichen war. „Ganztagsschulen haben es in Thüringen schwer, zusätzliche finanzielle oder personelle Mittel zu erhalten. Wir bekommen für unser Ganztagskonzept nichts dazu“, erzählt Jutta Maria Steinert. Möglich ist das Angebot momentan nur, und viele Kolleginnen und Kollegen sehr engagiert sind und zusätzliche Aufgaben erfüllen. Umstände, aus denen die Meuselwitzer geschickt herausholen, was gut für ihre Schülerschaft ist. Wie die 90 Minuten Lernzeit und Klassenleiterstunde am frühen Montagmorgen. „Der Klassenlehrer soll die Kinder aus dem Wochenende abholen“, erklärt Jacqueline Höfer, Koordinatorin der Ganztagsschule. Die Klassenleiterstunde ist der Ort des Klassenrats, des Besprechens von Problemen und der Dokumentation von Kompetenzen durch das Logbuch. 

Lernzeiten gibt es dreimal wöchentlich. Raum für individuelle Förderung. Hier lösen die Schülerinnen und Schüler Aufgaben, die sie von ihren Fachlehrern erhalten haben. Da auf alle fünften und sechsten Klassen zur selben Zeit Lernzeit haben, können die Kinder je nach Bedarf auch in andere Zimmer wechseln, die mit Lehrkräften verschiedener Fächer besetzt sind. Hausaufgaben entfallen. Großartig, findet Antonia aus der 5c: „Die Lernzeit ist eigentlich die beste Stunde von allen, vor allem, weil ich dann zuhause frei habe.“

Angebote auf der Basis von Ehrenamt

Am Meuselwitzer Gymnasium wählen die Jungen und Mädchen von dienstags bis donnerstags AGs wie etwa die Kaputtmachwerkstatt, in der vom Handy bis zum Computer alles auseinander genommen und untersucht wird. „Dieses und viele andere Angebote funktionieren nur, weil Menschen ehrenamtlich für uns arbeiten“, sagt Jutta Maria Steinert dankbar. Mittwochs findet alle zwei Wochen der so genannte wahlobligatorische Unterricht statt. Aus den Bereichen Literatur, Kunst, Sport und Natur besuchen die Kinder für je ein halbes Jahr ein Angebot, danach müssen sie das Fachgebiet wechseln. „Es gilt, sich auszuprobieren und Talente in sich zu entdecken“, beschreibt Jürgen Noth diesen pädagogischen Ansatz.

Freiarbeit verstetigen

„Wir arbeiten daran, die Lern- bzw. Freiarbeitsphasen, die wir im letzten Jahr erprobt haben, in den nächsten Schuljahren erneut aufzugreifen und den Methodenordner wieder zu aktivieren,“ erzählt Jutta Maria Steinert von ihren Absichten. Sie weiss, wie wichtig die Selbständigkeit ist, die die Schülerinnen und Schüler dadurch lernen können. „Die Kindheit ist eine andere als noch vor zehn Jahren. Das liegt vor allem daran, dass es in unserer Region kaum noch Kinder gibt.“ Meuselwitz hat von 1990 bis 2010 ein Viertel seiner Einwohner verloren. Fehlende Arbeitsplätze und fehlende Perspektiven. „Ostthüringen ist vom Aussterben bedroht“, stellt Jutta Maria Steinert fest. Innerhalb der letzten zehn Jahren hat sich die Zahl ihrer Schülerschaft halbiert. „Wenn es keine Geschwister und keine Spielkameraden gibt, wirkt sich das oft auf das Sozialverhalten aus. Das merken wir sehr deutlich“, sagt die Schulleiterin, „und deswegen liegt unser Augenmerk immer auch darauf, den Umgang miteinander zu schulen.“ 

Miteinander, das geht eben nur mit anderen. „Die Kinder können hier den Tag länger gemeinsam mit ihren Freunden verbringen. Am kurzen Freitag erlebe ich es oft, dass die Schüler fragen, ob sie nicht noch länger in der Schule bleiben können“, berichtet Jacqueline Höfer.

In der Aula im ersten Stock schwitzen gerade die baldigen Abiturienten über ihren Matheprüfungen. Pläne schmieden für das Leben nach der Schule, vielleicht auch für ein Leben nach Meuselwitz. Draußen vor der Stadt unweit der Landesgrenzen zu Sachsen und Sachsen-Anhalt blühen die Landschaften. Rapsgelb.
 

Britta Kuntoff

16.06.2012
www.ganztaegig-lernen.de