Lehrerhandeln im individualisierenden Unterricht

Individuelles Fördern muss selbst erfahren werden, gewollt sein und in praxisbegleitenden Arbeitszusammenhängen gelernt und unterstützt werden. Ausgehend davon, dass Lehrerhandeln und professionelle Kompetenz bestimmt werden durch: Wissen, Können, Wollen, Einstellungen und „subjektive Theorien“, wird deutlich, dass sich die Weiterentwicklung von Kompetenzen in Bezug auf individuelles Fördern auf alle diese Bereiche richten muss.

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„Vielfalt in der Schule: Heterogenität nutzen – individuell fördern“ bindet die beiden Begriffe „Heterogenität“ und „Individualisierung bzw. individuelle Förderung“ ganz selbstverständlich zusammen.

  • Die Förderung jedes Einzelnen auf der Grundlage seiner/ ihrer individuellen Voraussetzungen im Hinblick auf festgelegte Ziele oder Standards. Gemeint ist also eine Förderung im Sinne der Kompensation, damit alle diese (von außen bestimmten) Ziele erreichen. Heterogenität gilt es in diesem Sinn zwar bei der Förderung des Einzelnen zu beachten (als Heterogenität der Ausgangslage), aber auf Dauer abzubauen im Sinne von Verringerung der Leistungsschere.

Oder  es ist gemeint …

  • Die Förderung von Persönlichkeitsentwicklung im Sinne der Ausbildung individueller Charaktere, Profile, Interessen: Förderung der Individualität!

In dieser Bedeutung geht es um Selbstständigkeit, um Mündigkeit, um Eigen-Sinn und Heterogenität wird positiv besetzt im Sinne von Förderung  individueller Persönlichkeit

Wir sind alle gleich – wir sind alle verschieden

Hier wird ein Spannungsfeld deutlich: Geht es darum, schöpferischen Eigen-Sinn des einzelnen Schülers oder der Schülerin zu fördern oder geht es um die Hinführung zu bestimmten (fremdbestimmten) Wissens- und Kompetenzanforderungen? Es geht in Schule natürlich um beides, und das, obwohl sich beides ausschließen kann. Individuelle Förderung steht also in einem Spannungsfeld zwischen Hinführung zu standardisierten, fremdbestimmten Zielen und der Förderung – oder besser gesagt dem Zulassen – von Selbstbestimmung. 

Spannung von Gleichheit und Differenz

Es geht also bei individueller Förderung um die Spannung von Gleichheit und Differenz: „Wir sind alle gleich – wir sind alle verschieden“ (so hieß einmal eine Tagung am Oberstufenkolleg in Bielefeld). Genau aus dieser Spannung entsteht die Schwierigkeit im konkreten Handeln von Lehrerinnen und Lehrern im Umgang mit Heterogenität: Einerseits gilt es am Individuum anzusetzen, seine Selbstständigkeit zu fördern, das individuell Mögliche herauszufordern, andererseits geht es um eine gemeinsame Wissens- und Kompetenzbasis, um Interaktion mit anderen, um Toleranz unter Verschiedenen, um das notwendige soziale Miteinander. 

Anspruch auf Eigenart und Einzigartigkeit

Jedes Kind hat einen Anspruch darauf, als Individuum in seiner Eigenart und Einzigartigkeit gesehen und anerkannt zu werden. Gleichzeitig hat es einen Anspruch darauf, als eines unter Gleichen behandelt zu werden, gleichberechtigt zu sein. Die Erziehungswissenschaftlerin Annedore Prengel, deren Buch „Pädagogik der Vielfalt“ (Prengel 1995) Sie vielleicht kennen, spricht von egalitärer Differenz (Prengel 2001). Gleichheit und Gleichberechtigung einerseits und Verschiedenheit und Individualität andererseits werden von ihr nicht als gegensätzlich, sondern als sich gegenseitig bedingende und notwendige Kategorien demokratischen Denkens verstanden. Aber: Es sind im Kern antagonistische, sich widersprechende Kategorien.

Zum Handeln eines aktiven Lernenden

Der Zusammenhang zwischen heterogener Schülerschaft und Individualisierung des Lernens entsteht in Bezug auf Unterricht nur dann, wenn man die Grundgedanken konstruktivistischer Lerntheorien akzeptiert. Jegliches Lernen ist individuell. Konstruktivisten gehen davon aus, dass Wissen und Erkenntnis nicht der Niederschlag eines passiven Empfangs von Sinneseindrücken oder von Instruktionen ist, sondern Ergebnisse von Handlungen eines aktiven Subjektes sind. Wissenserwerb geschieht nicht auf Grund von Wissensvermittlung (Nürnberger Trichter), sondern nur durch die aktive Auseinandersetzung der Lernenden mit ihrer Umwelt. Jeder Lernende konstruiert dabei individuell Wissen in Abhängigkeit von Vorwissen, von bislang gewonnenen Einsichten und Überzeugungen. Neues Wissen wird somit mit dem Vorwissen verknüpft und muss auch immer dort andocken können.

Wenn nun in einer Schulklasse alle Kinder unterschiedliche Vorerfahrungen, Lebensumstände, und Lernmöglichkeiten haben – und das ist ja eine triviale Feststellung –, muss Unterricht, der berücksichtigt, dass alles Lernen individuell ist, also Lernangebote für alle Schüler und Schülerinnen machen und dabei ihre individuellen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Interessen einbeziehen.

Aufgaben der Lernenden und Aufgaben der Lehrenden

Das gesamte Modell zeigt weitere Wirkungskomponenten und -zusammenhänge auf, etwa dass auch die Lehrer natürlich individuelle Voraussetzungen für ihre Tätigkeit mitbringen, dass das Lernen in einen Klassenkontext sowie einen Schulkontext eingebunden ist, z.B. also ob diese Art des Lernens in einer Schule oder in einem ganzen Land institutionell verankert ist oder eine Ausnahmeerscheinung bei einem einzelnen Lehrer darstellt. Oder auch die Rückwirkung, die der Lernertrag auf die Voraussetzungen z.B. durch Erweiterung des Vorwissens in einem Lernbereich hat.

Dieses Modell zeigt Aufgaben der Lernenden und Aufgaben der Lehrenden, die aufeinander bezogen sind.

Lehrer ...

  • diagnostizieren Lernstände
  • stellen Aufgaben
  • beraten die Jugendlichen bei der Aufgabenbearbeitung, also beim Lernprozess und
  • nehmen Lernergebnisse zur Kenntnis und geben Rückmeldungen zur Qualität der erreichten Lernleistung und zum Lernprozess.

Die Schüler ...

  • bearbeiten Aufgaben
  • müssen dabei neben den inhaltlichen und methodischen Kompetenzen, an denen die Aufgabenbearbeitung ansetzt, Planungs- und Steuerungsfertigkeiten aktivieren bzw. schulen – zumindest bei komplexeren Aufgaben
  • Sie können im Idealfall ihre eigene Leistung einschätzen und an Kriterien messen.

Weder die Lern- noch die Lehraufgaben werden in einer festgelegten Abfolge realisiert. Auch wenn es natürlich sinnvolle Schritte und Abfolgen für Lernprozesse gibt, wird die tatsächliche Realisierung Verschränkungen einzelner Teilschritte, Abkürzungsstrategien und Umwege und ohnehin – je komplexer eine Aufgabe ist umso mehr – sehr unterschiedliche Lernwege aufweisen.

Von: Prof. Dr. Karin Bräu
Professorin für Schulpädagogik
Universität Mainz


Datum: 29.01.2012
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