Die Irritation der Gewohnheit

Ideensammelbox auf dem Ganztagsschulkongress 2010

Wie die Forschung und die Kunst lebt auch das Innovationsgeschehen an Schulen von der Irritation. Surrealistische Kunstwerke spielen mit unseren Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten. Künstler arbeiten damit, Erstaunliches, das „So-habe-ich-es-noch-nicht-gesehen“, einzubeziehen oder sie loten das Unwirkliche auf der Rückseite unseres Bewusstseins aus.

von Prof. Dr. Uwe Hameyer

Phantastisches und Absurdes werden zu einer zweiten, „fassbaren“ Wirklichkeit und Irritationen erzeugen so neue Erlebnisse und Sichtweisen in einer anderen Wirklichkeit. Das Phänomen der Irritation ist auch aus der Welt ganztägigen Lernens vertraut, denn ganztägiges Lernen ist eine Konzeption, die per definitionem die traditionellen Grenzen der Schule sprengt. Die Angebote erfolgen in Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern aus dem Schulumfeld und es bieten sich unendlich viele Möglichkeiten, eine Bildungsregion lebendig zu gestalten, die Kompetenzressourcen der Eltern zu nutzen und mit Industrie, Handwerk sowie Kulturinstitutionen zusammenzuarbeiten. 

Produktive Irritationen für Schulen

Wenn eine Schule in der schwedischen Gemeinde Västeras  die Schuljahreszeit in Abschnitte von jeweils sieben Wochen einteilt, sie im Sinne ganztägigen Lernens neu gestaltet und eine Lernkultur aufbaut, die nicht mehr von der Logik der Schulfächer ausgeht, spielt sie mit Irritationen. Alle sieben Wochen wird ein Thema, zum Beispiel „every vote counts“ („jede Stimme zählt“), in den Mittelpunkt gestellt. Das Epochalthema ist wie ein Magnet, ein Motivationsanker für fächer- und jahrgangsübergreifende Lernformen vom Kindergarten bis zum Abschluss der 9. Klasse. Man kann sich vorstellen, wie irritierend der Weg zu diesem Schulmodell für manche Menschen und Schulpartner gewesen sein muss. Heute ist die Schule eine der interessantesten und erfolgreichsten in Schweden. 

Prof. Dr. Uwe Hameyer hat den Lehrstuhl für Schulpädagogik an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel inne. Zudem ist er Gründungsmitglied des International School Improvement Project (ISIP) der OECD sowie Begründer und Direktoriumsmitglied von Advanced Studies (AS), Universität Kiel.Zu seinen Schwerpunkten zählen Schulentwicklung, Organisationsberatung und Innovationsforschung sowie Curriculum-Design und Lerncoaching.

Irritationen entstehen auch dann, wenn zum Beispiel „Dritte“ in die Schule kommen: Handballtrainer und Ingenieure, arbeitslose Eltern und Senioren, die in der Schule sehr erfolgreich unterrichten, oder wenn Kollegium und Kinder entscheiden, dass die Klassentüren während der Unterrichtszeit offen stehen können. Entgegen der Alltagsmeinung kann die Irritation im pädagogischen Prozess sehr produktiv sein, besonders in der Schulentwicklung und Praxis ganztägigen Lernens neue Erkenntnisse auslösen – jedoch nur dann, wenn es gelingt, die fest verwurzelten Denkgewohnheiten auf den Prüfstand zu stellen. Erst wenn Sehgewohnheiten aufbrechen, kommt Bewegung ins Spiel.

Das Paradoxe schürt die Neugier des Kindes

In der Lernpraxis erzeugt die Irritation Impulse zum Nachdenken und Lernen. Jeder Lernende lernt immer erst dann etwas, wenn er sich mit einem Gegenstand so auseinandersetzt, dass er sich neue Erkenntnisse aneignet und gegebenenfalls bisheriges Wissen neu bewertet oder auch entsorgt. Das zeigt zum Beispiel der Pädagoge Martin Wagenschein in seinen wegweisenden Arbeiten zum Lernen in Auseinandersetzung mit erstaunlichen Phänomenen. Das Merkwürdige sei bildend, nicht die fertige Theorie. Das Paradoxe in der Welt schürt die Neugierde des Kindes (und auch des Erwachsenen), nicht das im Hochglanzdesign präsentierte Wissen im Schulbuch, das meistens nur das Endergebnis eines Forschungsprozesses präsentiert. Was fehlt ist die faszinierende Entstehung von Theorien und die mindestens so spannende Frage, wie Wissen entsteht – dabei natürlich durch allerlei produktive Irritation watend.

Von kleinen Kindern kennen wir das: Sie sind von sich aus neugierige Entdecker, „begreifen“ ihre Umwelt, kippen Bauklotzgebilde um, spielen und be-greifen, basteln und formen, rennen und tanzen. Niemand muss sie dazu anhalten. Sie entdecken ihre Umwelt von sich aus. Gute Schulen, die motiviertes Lernen fördern, unterrichten nicht zuvorderst „das richtige“ Wissen, sondern lassen die Kinder zunehmend eigentätig etwas Wichtiges oder Interessantes entdecken. Sie bahnen multisensorielle Wege zum Wissen und konfrontieren die lernenden mit lebensnahen oder simulativen Situationen und Lernumgebungen, die das Erkunden von Wissenswelten fördern. Die Erfahrbarkeit des Wissens und der Gestaltbarkeit eigener Lebenswelten ist die Prämisse für eigenverantwortliches Lernen. 

Motiviertes Lernen braucht Auslöser

Die Leitidee der Eigentätigkeit beruht auf dem Ziel, für das explorative Verstehen und Tun praktische Lernanlässe zu gewährleisten. Wenn wir Schule als Raum für motivierende Lernanlässe sehen und dafür Lernkulturen entwickeln, die mit der Ressource Zeit nicht nur additiv nach dem Stunde-für-Stunde-Schema umgehen, sondern kreative Formen suchen, dann müssen wir darüber nachdenken, über welche Energien der Ganztagsraum Schule verfügt, um motiviertes Lernen auszulösen. Das können zum Beispiel kontrastive Lernanlässe sein, in denen Kinder und Jugendliche „Komisches“ wie seltsame Maschinen und Kunstwerke erfinden, paradoxe Phänomene aus ihrem Lebensumfeld aufschlüsseln und über eigene Vorstellungen und Theorien zu erstaunlichen Phänomenen der Alltagswelt diskutieren. Motivieren können ebenso altersgemischte und generationsübergreifende Lernsettings, Forscherwerkstätten sowie Lerncoaching. 

Erkenntnis bildende Lernformen beruhen auf interaktiven Prozessen des Forschens, Erfindens, Gestaltens, Explorierens, Experimentierens und Analysierens. Es geht nicht nur um die Betrachtung der „Oberfläche von Wirklichkeit“, sondern um eigene Vorstellungen und Suchkategorien. Die Lernenden können den Irritationen und Ungereimtheiten im Lernprozess nachgehen, mit anderen gemeinsam forschen und Erkenntnis leitende Fragen stellen – durch solche Fähigkeiten können Schülerinnen und Schüler lernkompetent werden, wenn entdeckendes Lernen und selbstbestimmte Erkenntnisgewinnung als bildende Einheit gesehen werden.

Die Geduld als Beschleuniger

Es geht es nicht nur darum, die Chancen ganztägigen Lernens in seinen vielseitigen Praxisformen zu nutzen, sondern den Weg dorthin als einen experimentellen und hoffentlich teils auch irritierenden zu verstehen: Manches wird schnell gelingen, anderes nicht. Manches Thema finden die Protagonisten faszinierend, während sich andere dagegen auflehnen. Jede schulische Innovation von kleiner bis mittlerer Reichweite erstreckt sich über eine Umsetzungszeit von drei bis fünf Jahren oder noch mehr. Erst danach kann man sehen, ob das Neue vollständig in der schulischen Wirklichkeit verankert ist, sodass man die Innovation nicht mehr als solche erkennen kann. 

Kürzlich schrieb mir eine Schulleiterin, die Geduld in vielem sei der beste Beschleuniger. Damit meint sie nicht das tatenlose Hinwarten, sondern sie assoziiert die Tugend der Achtsamkeit und Reflexion, mit denen die Passung zwischen Altem und Neuem herbeigeführt wird. Schulentwicklung hat immer auch mit kritischen Ereignissen zu tun, mit Konflikten und Irritationen. Mit Tempo 200 auf der Autobahn sieht man weder links noch rechts etwas, sondern durchjagt ein schönes Land. Erst in der Langsamkeit und über interessante „abwegige“ Routen zeigt sich das Vorankommen, die neue Erkenntnis, das Schöne des „Innovationsraumes“ Ganztagsschule.

 

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