Prof. Uwe Sielert: Keiner ist allein für das Gesamtwohl des Kindes zuständig

 




Prof. Dr. Uwe Sielert, Universität Kiel

Mit welcher Botschaft sind Sie nach Halle gekommen?
Eine meiner Botschaften lautet, dass es an einigen Universitäten durchaus rege Kommunikation zwischen angehenden Lehrerinnen/ Lehrern und Sozialpädagoginnen/Sozialpädagogen besteht, obwohl in den meisten Vorlesungsverzeichnissen nicht explizit steht, wenn eine Veranstaltung für Ganztagsschulen konzipiert ist. In Kiel versuchen wir, zu verschiedenen Themen, wie zum Beispiel der Pädagogik der Vielfalt, in Interaktion zu treten.

Eine andere Botschaft, die ich mitbringe ist, dass der gesamte sogenannte soziale Bereich, der in Ganztagsschulen eine Rolle spielt, also bestimmte Kurse über die Organisation der Ganztags, individuelle Hilfen, Präventionsangebote, bis zur Evaluation und zur Netzwerkbildung eine sehr komplexe Aufgabe ist, die nicht einer konkreten Profession zugemutet werden. Das Bildungssystem ist sehr stark ausdifferenziert und die Aufgaben, die Erziehung und Bildung zu bewältigen haben, die Veränderung der Relation zwischen Schule und Familie, der Jugendarbeit und der Erziehungshilfe ist so komplex geworden, dass wir verschiedene Professionen brauchen, die um die Kompetenz der anderen Profession wissen und diese anerkennen. Keiner ist für das Gesamtwohl des Kindes zuständig, das wäre eine Überforderung des Einzelnen. Und das schließt auch Konflikte aus. Kinder müssen zudem die Möglichkeit haben, sich an einen Anwalt zu wenden, der nicht so in das Schulsystem eingebacken ist, wie es die Lehrkräfte sind.

Wie bereiten Sie Ihre Studierenden auf diese Aufgabe vor?
Es gab eine Phase in der akademischen Ausbildung von Erziehungswissenschaftlern und Pädagogen, bei der in den Seminaren sowohl angehende Diplompädagogen als auch Lehrerinnen und Lehrer saßen. Das war sehr konfliktreich, das hatte aber auch einen Vorteil: dass sie schon früh ihre unterschiedlichen Professionsschwerpunkte kennenlernen. Die Umstellung auf Bachelor und Master haben wir auch dazu genutzt, neue Praxisaufgaben umzusetzen. Nach einer ersten Phase der Erfahrung, in der die Curricula zu voll und zu spezialisiert waren, haben wir jetzt die Möglichkeit ergriffen, das Bachelor- und Masterstudium zu reformieren. Zum Beispiel im Bachelorstudium Module so zu wählen, dass dabei ein Schulsozialarbeiter herauskommt. Im Masterstudium können sich Studierende auch direkt auf Ganztagsschulen vorbereiten.

Welche Rolle spielen Ganztagsschulen im Hinblick auf die Prävention sexuellen Missbrauchs?
In der Ganztagsschule gehen sehr viele Erwachsene – Lehrer, Sozialarbeiter, Sporttrainer und andere –
unterschiedliche Nähe- und Distanzverhältnisse zu den Kindern und Jugendlichen ein. Eine solche Schule muss darauf achten, dass diese Nähe- und Distanzverhältnisse verantwortbar sind und muss Kinderschutz auch im Hinblick der sexuellen Grenzüberschreitung so ernst nehmen, dass das Thema Sexualität nicht tabuisiert ist. Gleichzeit kann so eine Schule auch bei Vermutungen, dass im häuslichen Umfeld in dieser Hinsicht etwas schief läuft, reagieren. All das, was normalerweise im außerschulischen Bereich organisiert wurde, ist jetzt auch Thema der Ganztagsschule.

Wie sieht Ihre persönliche Vision aus?
Meine Vision deckt sich mit dem, was unser Modell der „Pädagogik der Vielfalt“ beinhaltet. Dass Gerechtigkeit auf der einen Seite und Anerkennung von Besonderheiten auf der anderen Seite so ausbalanciert werden, dass Vielfalt gedeihen kann. In der Hochschule ist das zum Teil möglich. Diese Vielfalt wünsche ich mir für Ganztagsschulen auch:  Direktoren sollen Geld in die Hand bekommen, um Ideen zu realisieren, um eine Vielfalt von Mitarbeitern – vom künstlerischen Bereich bis zum Schulpsychologen – in die Schule hineinzuholen und Interprofessionalität umzusetzen. Dazu bedarf es einer administrativen Zumutung von Eigensinn und von Selbstbestimmung.  

Datum: 05.06.2011
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