Reportage: Mittags um eins ist es nicht vorbei

 

Lernen in der Ganztagsschule – das stellt auch die Lehrer vor neue Herausforderungen. Am besten, sie werden schon an den Hochschulen auf die neuen Ansätze vorbereitet. Der Ganztag in der Lehrerausbildung war deshalb zentrales Thema beim 1.Transferforum am 2. September in Frankfurt/Main im Rahmen des Programms Ideen für mehr! Ganztägig lernen.". In dem Beitrag werden die Ergebnisse des 1. Transferforums vorgestellt.

 

„Lehrer sind die zentralen Gestalten, wenn es um die Qualität von Schule und Unterricht geht.“ „Lehrer stellen plötzlich fest, dass Kinder nachmittags um vier anders drauf sind als morgens um neun.“ Zwei Statements, mal von Bettina Bundszus, die seit 2005 das Referat Investitionen und Innovationen in der Bildung im Bundesministerium für Bildung und Forschung leitet, mal von dem Moderator und Bildungsjournalisten Armin Himmelrath, dessen drei Söhne „alle auf eine Ganztagsschule wider Willen gehen“. In beiden Fällen der Ansatz, sich beim 1. Transferforum im Rahmen des Programms Ideen für mehr! Ganztägig lernen." dem Thema Ganztagsschule in der ersten und zweiten Phase der Lehrerausbildung zu nähern.

Das Forum wurde von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung gemeinsam mit dem BMBF veranstaltet.
Selbstverständlich ist eine gute Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer die Grundvoraussetzung für eine gelungene Ganztagsschule. Dennoch spielt das Thema Ganztag nur eine untergeordnete Rolle in der Ausbildung. Erstaunlich vor dem Hintergrund, dass inzwischen knapp die Hälfte der Schulen in Deutschland Ganztagsschulen sind.

In der Goethe-Universität Frankfurt trafen sich etwa hundert Experten aus Wissenschaft und Bildungsverwaltung mit Schulleitungen, Lehrkräften sowie Studentinnen und Studenten, um über Forschungsergebnisse und Alltagserfahrungen zu diskutieren. Das inhaltliche Konzept der Veranstaltung wurde unterstützt vom Institut für Schulentwicklungsforschung der TU Dortmund.

Little pieces of wisdom

Es gab leidenschaftliche Debatten und Gäste, die sich in ihrer Arbeit für einen erweiterten Bildungsbegriff stark machen und wesentliche Defizite der herrschenden Lehrerausbildung benennen:

  • Es gibt keine bundesweite Verankerung von Schulentwicklungs- und  -gestaltungsformen im Pflichtkanon der Lehrerausbildung.
  • Universität, Studienseminar und Schule müssten sich öffnen und besser zusammenwirken,
  • 1. und 2. Phase sind nur unzureichend verzahnt.
  • Der Umgang mit unterschiedlichen Qualifikationen, Berufen und Stundenumfängen spiegelt sich nur unzureichend in der Lehrerbildung wider.
  • Seminarleiter arbeiten oft mit Praxisbeispielen aus dem offenen Ganztag, obwohl die Studierenden den gebundenen präferieren.
  • Es gibt nur geringe Zeitkontingente für das Thema Ganztag, das als Querschnittsaufgabe und nicht isoliert behandelt werden sollte.
  • Aus Referendarsperspektive liegt der Fokus auf Unterrichten.

Die Unzufriedenheit kulminierte in dem Wunsch „Es sollte Pflicht sein, dass jeder Lehramtsanwärter Ganztagsschule in der Praxis kennenlernt." Außerdem solle der Ausbilder Ganztagserfahrung mitbringen und weitere Professionen eingebunden werden.

Stefan Appel riet dringend „über den Tellerrand des eigenen Bundeslandes hinauszuschauen, da sich die Ganztagsschulmodelle der Länder gravierend unterscheiden.“ Er nannte ein bestechendes Argument: „Wir dürfen Kindern nicht die Jugend klauen. Wenn sie bis 17 Uhr in der Schule sind, müssen wir dort Vernünftiges bieten. Dazu benötigen wir gut ausgebildete Lehrer.“

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Stiefkind ohne Tradition

Bei dieser ersten länderübergreifenden Veranstaltung wurde deutlich: Wenn Ganztagsschule klappen soll, ist Umdenken gefordert in der Ausbildung von Lehrkräften im Studium, im Referendariat und in den ersten Praxisjahren. Ganztagsschulen setzen auf ein völlig neues pädagogisches Verständnis, auf erweiterte Lernzeit, differenzierte Methoden und neue Organisationsformen.

„Natürlich wissen alle, wir können Ganztagsschule nicht mit dem Halbtagslehrer machen, aber das Thema ist ein Stiefkind in der Ausbildung und hat keine lange Tradition an deutschen Hochschulen“, klagte Wolf Schwarz, der im Hessischen Kultusministerium für die Ganztagsschulentwicklung verantwortlich ist.
Anders sei es in der Lehrerfortbildung, die sich sehr auf Ganztagspädagogik eingestellt habe – nicht zuletzt dank der regionalen Serviceagenturen der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung. Der Ministerialrat wies darauf hin, dass die Kultusministerien der Länder nur für einen Teil der Lehrerausbildung zuständig seien, denn die 1. Phase an den Universitäten werde meist von den Wissenschaftsministerien verwaltet. In der Konsequenz kommt es „manchmal zu nicht so einfachen Herausforderungen in der Koordination und der Kooperation“. Aber auch die 2. Phase, das Referendariat, „ist nicht frei von Defiziten“, so Schwarz.

Zentrale Fragen der Ausbildung

Er nannte als Fragen, die in der 1. und 2. Phase der Lehrerausbildung eine Rolle spielen müssten: Wie erreiche ich Modell und Realität im Umgang mit Heterogenität? Wie verzahne ich Unterricht und Angebot, wie Vormittag und Nachmittag? Wie etabliere ich ein Qualitätsmanagement für Ganztagsschulen, eine Evaluationskultur und eine Feedback-Kultur zwischen Lernenden und Lehrenden? Wie schaffe ich verbindliche Kooperationsstrukturen mit außerschulischen Partnern sowie fächerübergreifende und ganzheitliche Lernarrangements? Wie ermögliche ich Schüler- und Elternbeteiligung? Wie erhalte ich eine gesundheitsfördernde und bewegte Ganztagsschule?

80 Forschungsprojekte und ein Transferproblem

„Die Kultusminister aller Länder haben ambitionierte Programme zum Auf- und Ausbau von Ganztagsschulen“, bestätigte Bettina Bundszus. Seit dem Pisa-Schock sei viel in der Schulentwicklung passiert und die Frage nach der Qualität von GTS in den Mittelpunkt gerückt. Derzeit gebe es über 80 ganztagsschulbezogene Forschungsprojekte, viele davon mit Beteiligung des BMBF. Es gelte auf die Erfahrungen anderer systematisch zurückzugreifen. „Wir haben kein Wissensproblem, wir haben ein Transferproblem“, konstatierte die Politologin. „Es gibt zuhauf gute Schulen in Deutschland, eine Menge Wissen wurde erarbeitet, kein Thema wurde nicht in irgendeinem Modellversuch bearbeitet.“ Das Expertenwissen müsse nun für die Praxis anwendergerecht für Lehrerinnen und Lehrer aufbereitet werden. Sie setzt auf den verstärkten Austausch der Wissenschaftler, die Impulse aus den Netzwerken.

Der Fächerbezug bestimmt die Ausbildung

Prof. Katrin Höhmann, Leiterin des Instituts für Erziehungswissenschaften an der PH Ludwigsburg, begann ihren Vortrag mit „lauter guten Nachrichten“:

  • Die Ganztagsschule wird nicht mehr mit der Gesamtschule verwechselt.
  • Der Ganztag ist in der Lehrerausbildung an Universitäten und Hochschulen angekommen.
  • Der Ganztag wird in seiner Bedeutung in Zusammenhang mit Bildungschancen gesehen.
  • Die Studierenden waren zunehmend selbst Schülerinnen und Schüler an Ganztagsschulen und bringen das Thema mit.
  • Ganztag ist Thema von Veranstaltungen, Haus- und Examensarbeiten sowie mündlichen Prüfungen.

Das zeige die Relevanz des Themas, erzeuge aber ein Scheinbild, denn alte Probleme blieben bestehen. „Ob der Studierende mit dem Thema Ganztag konfrontiert wird, ist immer noch eine Frage des Zufalls“, sagte Höhmann. Ausbildungselemente wie Teamarbeit und Organisationsentwicklung würden fehlen. „Studierende werden für Fächer ausgebildet, nicht für Schulen und deren Aufgaben“, bilanzierte Höhmann. Sie regte an, in der Ausbildung die drei Aspekte Personalentwicklung, Organisationsentwicklung und Entwicklung der Bildungsangebote zu verankern.

Das Programm Reform Plus

Höhmann berichtete von den guten Erfahrungen mit dem Ludwigsburger Programm „Reform Plus" und nannte als Motivation der Studierenden: „Uns reicht es nicht zu verstehen, wie unterrichtsdidaktische Modelle funktionieren, wir wollen wissen, wie Schule funktioniert.“ 30 Studierende haben jedes Jahr die Chance, an diesem Programm teilzunehmen, das mit der Stiftung Würth als Kooperationsprojekt durchgeführt wird. Sie erleben ein Semester je vier Tage pro Woche den Alltag einer reformpädagogischen Schule und sollen diesen aktiv mitgestalten. Jeden Freitag besuchen sie speziell für das Praxissemester ausgerichtete Seminare in Erziehungswissenschaften und ihren jeweiligen Fächern.

Durch dieses Zusatzangebot erhalten sie Kenntnisse über alternative Schulmodelle, Öffnung von Unterricht oder auch selbstbestimmtes Lernen. So wächst das Verständnis von Schule als Gemeinschaft und von ganztägiger Bildung in gemeinsamer Verantwortung. Die Zufriedenheit der Studierenden und der Lehrkräfte mit diesem Ausbildungselement sei sehr hoch. Die erfolgreiche Teilnahme wird als herausragende Leistung gewertet, für die die Studierenden auf Antrag von den Studiengebühren befreit werden können.

Ergänzende Kompetenzen oder neue Profession?

Bei den Teilnehmenden herrschte Konsens, dass in der Lehrerausbildung zumindest vier Bereiche zu berücksichtigen seien: die Studien in den zukünftigen Schulfächern, die Studien in den darauf bezogenen Didaktiken, darüber hinaus Studien in den als grundlegend erachteten Erziehungs- und Bildungswissenschaften (Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Politologie, usw.) und Schulpraktische Studien.

Dabei dürfe nicht außer Acht geraten, wie heterogen sein könne, was sich hinter der Bezeichnung „Ganztagsschule“ verberge:  vom G8-Gymnasium mit Kantine bis hin zur jahrgangsübergreifenden Grundschule mit professionsgemischter Teambetreuung, von der Voll Gebundenen Ganztagsschule bis hin zur Offenen Ganztagsschule mit Jugendbegleitern, Ehrenamtlichen, pädagogischen Assistenten, Vereinsvertretern.
Das belegt schon, wie schwierig es ist, eine Lehrer/innenausbildung für Ganztagsschulen anzustoßen und voranzubringen. Dazu kommt noch die Frage, ob es sich um einen neuen Beruf handelt oder um die Ergänzung existierender Lehrerbilder, -kompetenzen und -qualifikationen. Katharina Horn (SV Bildungswerk) warnte: „Sicher ist das Thema Ganztagsschule verdammt wichtig, aber ich habe Angst, dass die Lehrerausbildung überfrachtet wird. Zumindest im Bachelor stößt man an die Grenzen.“

Kaum Diskussionen über die Berufsrolle

Für welche Perspektive man sich auch entscheidet, unstrittig ist für Karsten Speck: „Die Qualität von Schulen hängt vom Personal vor Ort ab und nicht von Lehrplänen und Richtlinien.“ Der Professor von der Universität Oldenburg widmete sich dem Thema Professionalität in der Ganztagsschule. „Der empirische Erkenntnisstand über das, was in der 1. und 2. Phase der Ausbildung passiert, ist sehr gering“, sagte Speck einleitend. In Politik, Verwaltung und Ausbildung werde erstaunlich wenig diskutiert über die Auswirkung von Ganztagsschulen auf das Alltagshandeln, die Berufsrolle oder generell den Beruf von Lehrern. „Man hat den Eindruck, dass ein großes Reformprojekt mit erheblichen Geldmitteln als Institution geplant wird, aber das Personal darin relativ wenig betrachtet wird“, attestierte er Nachholbedarf.

Mehr Wunsch als Realität

Welche besonderen professionellen Kompetenzen müssen Lehrer mitbringen, wenn sie an Ganztagschulen tätig werden? Gewünscht wird laut Speck:

  • sehr hohe Präsenz am Ort Schule, da nur so eine wirklich enge Bindung zu Schülern, Eltern und Kollegen stattfinden kann und Schüler Lehrer nicht nur in der Unterrichtsfixierung wahrnehmen,
  • eine neue Lehr- und Lernkultur, d.h. andere methodische Ansätze. Es geht darum verstärkte Binnendifferenzierung und Individualisierung von Kindern und Jugendlichen zu ermöglichen und wegzukommen von der Rolle des Wissensvermittlers hin zum Lernbegleiter.
  • individuelle Förderung von Schülern, d.h. die Ungleichheit mit im Blick zu haben und sich nicht an homogenen Lerngruppen zu orientieren,
  • Teamarbeit und Kooperation mit außerschulischen Partnern,
  • mehr Zeit zu investieren in Betreuung, Erziehung und soziale Aufgaben, da Schule nicht als Unterrichtsort, sondern als Lebensort verstanden werden muss,
  • sich stärker als in der Halbtagsschule mit konzeptionellen Beiträgen an der Schulentwicklung zu beteiligen, den eigenen Unterricht zu evaluieren, Fortbildungen zu besuchen etc.

Anforderungen steigen auch an das Regelschulsystem

Diese Auflistung zeigt, dass Lehrkräfte an Ganztagsschulen nicht ganz neuen Anforderungen ausgesetzt sind, aber bestimmt doch weitreichenderen Aufgaben und einer anderen Schwerpunktsetzung. Karsten Speck wagt die Prognose: „In vierzig Jahren wird man diese Anforderungen an das Regelschulsystem stellen.“ Dazu brauche es aber andere Rahmenbedingungen an den Schulen, mehr Zeitspielräume, entsprechendes Personal und andere Arbeitszeitmodelle. „Ohne Veränderung der Lehrerrolle, ohne Veränderung des Lehrerberufs wird es nicht passieren“, stellte er fest.

Die Realität sieht anders aus

Interessant war der Kontrast zwischen diesen Anforderungen und dem Ist-Zustand. Die empirischen Befunde waren durchwegs kritisch, aber nicht so einseitig, dass sie ein Zerrbild liefern würden. Danach herrsche ein sehr breites Verständnis von individueller Förderung: „Das reicht vom Umgang mit Messer und Gabel bis zu diagnostischen Elementen wie Portfolios und Lerntagebüchern“, beschrieb Speck die Bandbreite. Die möglicherweise vorhandene unterschwellige Angst vor Mehrbelastung sei nicht gerechtfertigt. In Bezug auf die Lehr- und Lernkultur gebe es kaum Rhythmisierung, eine sehr starke Trennung von Vormittag und Nachmittag, mangelnde Qualifikation und mangelnde Konzepte. Positiv sei dagegen die Vielfalt an Kooperationspartnern, aber hier zeigten sich auch erhebliche Probleme durch unterschiedliche Bildungsvorstellungen und nur wenige fest installierte Kooperationsstrukturen. Dazu gebe es deutliche Zeichen von Statusabwertung gegenüber Ehrenamtlichen nach dem Motto Die haben ja keine Qualifikation, gegenüber Eltern und Sozialarbeitern. In Specks Worten existiert ein „Nachholbedarf an Wertschätzung und Anerkennung der Kooperationspartner“. Bezogen auf Betreuung, Erziehung und soziale Aufgaben komme es zu einem Wegdelegieren von Aufgaben. 30 bis 40 Prozent der befragten Referendare sagen Das ist nicht unser Metier zitiert Speck eine Umfrage.

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Die Folgen für die Ausbildung

Als Konsequenz für die Ausbildung leitet Speck ab:

  • Ängste und Widerstände ernst nehmen und sehr frühzeitig, möglicherweise schon vor der eigentlichen Ausbildung diskutieren und klären, was Lehrertätigkeit bedeutet, eventuell auch über Einstellungstests,
  • Die mit Ganztag verbundenen Inhalte müssen fester Bestandteil der Ausbildung werden.
  • Seine Empfehlung ist die gemeinsame kooperative und interdisziplinäre Ausbildung: „Wenn wir Kooperation nicht nur vermitteln wollen, sondern erlebbar machen wollen, müssen wir gemeinsame Ausbildung organisieren, insbesondere zwischen Sozialpädagogen und Lehrern, aber auch über andere Berufsgruppen hinaus.“
  • Forschungserkenntnisse müssen zurückgespiegelt werden in die Ausbildung,
  • eine stärkere Fallorientierung, um mit Heterogenität umzugehen,
  • Die 1. und 2. Phase müssen stärker aufeinander abgestimmt werden.

Neue Lehrer braucht das Land

Lehrer sind Fachleute für das formale Lernen. Entsprechend ist die Ausbildung organisiert. Quantitativ dominieren die Fachinhalte, begleitet von den entsprechenden Fachdidaktiken. Durch den Umbau zu Ganztagsschulen ergibt sich vielerorts ein erweitertes Tätigkeitsspektrum (individuelle Förderung der Schüler, Freizeitangebote etc.). Hans Gängler, Professor für Sozialpädagogik an der TU Dresden, fordert deshalb: „Wir müssen darüber nachdenken von der Konzentration auf formales Lernen hin zu einem Arrangement formaler, non-formaler und informeller Lernmöglichkeiten zu kommen.“ Seine empirisch nicht untermauerte Einschätzung zum Schulalltag in Sachsen lautet: „Ein Drittel der Lehrer war von Anfang an überzeugt von der Ganztagsschule, ein Drittel hält sich vornehm zurück und das dritte Drittel sagt ‘um Gottes Willen, Ganztagsschule? Nie! Ich mache weiter Unterricht wie bisher‘.“ Inzwischen gebe es die mittlere Gruppe kaum noch.

Vom Instrukteur zum Bildungspartner

Möglicherweise würden in Zukunft zwei Professionsprofile von Lehrern existieren, das des Instrukteurs, der von Klasse zu Klasse eilt und seinen Stoff vermittelt und das des Bildungsspezialisten mit einem sehr viel weiteren Bildungsbegriff. „Wenn wir in Richtung des Generalisten gehen, muss die komplette Lehrerausbildung umgestellt werden“, prognostizierte Gängler. Die Entwicklung gehe von der Kernkompetenz Unterrichten zur Erziehungs- und Bildungspartnerschaft.

Die Ganztagsschulentwicklung erfordere die Zusammenarbeit mit Experten unterschiedlicher Berufsgruppen, unterschiedlicher Qualifikationsprofile und mit Eltern. Insofern würden Partizipationsbereitschaft und Teamfähigkeit noch stärker zu Schlüsselqualifikationen als bisher. Darauf müsse Ausbildung reagieren.
„Die ganze Geschichte hat einen großen Haken, ein Strukturproblem, die Ausbildungsreform in Zeiten des Bologna-Prozesses mit Akkreditierungsverfahren, Re-Akkreditierungsverfahren, der ganz komplizierten Berechnung und Gestaltung von Modulen“, sagte Gängler. Anstelle eines Moduls Ganztag als Stein des Weisen befürworte er, Ganztag als Querschnittsthema zu implementieren. Dafür sei aber an Universitäten noch sehr viel Überzeugungsarbeit zu leisten.

Das Karlsruher Modell eines Zertifikats Ganztagsschule

Dass die Ganztagsschulbildung nicht überall in der Lehrerausbildung vernachlässigt wird, belegte Dr. Hartmut Binder am Beispiel der PH Karlsruhe. Er stellte das dort zum Wintersemester 2009/10 eingeführte „Zertifikat Ganztagsschule“ vor.  Dieses studienbegleitende Angebot verfolgt den Anspruch, Aspekte ganztägiger Bildung verstärkt in die Lehre zu integrieren. Das Ganze mit dem Wissen, dass die Studierenden sehr belastet sind und  wenig Zeit haben. Beteiligt sind regelmäßig 20 bis 25 Lehrende unterschiedlicher Fächer und Disziplinen aller Fakultäten der Hochschule.

Zu den Kompetenzbereichen und Aufgabenfeldern zählen:

  • Kenntnisse über Geschichte, Organisation und Entwicklung von Ganztagsschulen
  • Herausforderungen in der Zeit- und Raumgestaltung, Schulverpflegung und gemeinsames Essen als Chance, Rhythmisierung, Förderung, Betreuung, Freizeit
  • Schule im Kontext, insbesondere in der Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe, lokale Vernetzung, Kooperation mit außerschulischen Partnern
  • Unterricht im Kontext, in der Zusammenarbeit mit „anderem pädagogischen Personal“ (Schulsozialarbeit, Jugendbegleiter, päd. Assistenten, usw.), Kooperation mit innerschulischen Partnern
  • Unterricht im Ganztag, neue Anforderungen in der Didaktik der Fächer, im Umgang mit Heterogenität, der Gestaltung von Lernumgebungen
  • Beziehungen neu gestalten (mit einzelnen Schülern, Gruppen, Institutionen, Eltern, Kollegen)

Hartmut Binder urteilt: „Unter den gegebenen Bedingungen ist das sehr hoch gegriffen. Wir haben nicht das Ei des Kolumbus erfunden. Wir rackern uns ab. Die Nachfrage bei den Studierenden ist richtig groß, wir dürfen aber um die Lehrbelastung nicht zu erhöhen nicht mehr als 30 pro Jahr zulassen.“
Das Zertifikat erhalten die Studierenden nach dem zusätzlichen Besuch von vier GTS-Veranstaltungen (zwei im erziehungswissenschaftlichen Bereich, zwei mit  qualifiziertem Leistungsnachweis) und einem vierwöchigem Blockpraktikum an einer GTS. Sie erwerben damit einen Bonus z.B. bei „schulscharfen Ausschreibungen“, also wenn Schulen Lehrerstellen mit zum Profil passenden Bewerber/innen direkt besetzen.

Wenn ein Team auf lauter Könige trifft

Binder sieht noch einen weiteren Vorteil: „Wir gehen davon aus, dass Lehrer/innen mit anderen Professionen zusammenarbeiten können müssen und dadurch auch ihr eigenes Professionsbewusstsein stärken. Dafür müssen wir Augen öffnen, mit Leuten vertraut machen, Institutionen besuchen, wo man merkt, die denken anders, die haben andere Wertigkeiten, die gehen anders miteinander um.“ Er zeichnet ein prägnantes Bild: „Sozialarbeiter sind ein Team von drei, vier Leuten mit einem Chef, einer Chefin. Bei uns im Lehrerzimmer sitzen 36 Könige und Königinnen, alle selbstständig und autonom. Das transparent zu machen und damit die Voraussetzung für Kooperation zu schaffen, streben wir an.“ Außerdem gebe es gemeinsame Veranstaltungen mit Erzieher/innenstudenten und Ringveranstaltungen. Die Studierenden gewinnen ein anderes Bild vom Lehrerberuf. Allerdings, so Binder, gebe es ein  Drittel Abbrecher.

Blick auf die Mikroebene nötig

Ludwig Stecher, seit 2008 Professor für Empirische Bildungsforschung an der Universität Gießen, referierte über die Wirkung von Ganztagsschulen auf Schülerinnen und Schüler. Es sei unzureichend, von der Makroebene Bildungssystem aus zu diskutieren statt auf die Akteursebene herunterzugehen und Lernsituation, Selektion und Handlungsebene miteinander zu verknüpfen.

Seine 15 Folien in 15 Minuten-Präsentation bestätigte zunehmend das Vorurteil, dass Journalisten in eine Art Wachkoma verfallen sobald sie mit soziologischen Begriffen wie Makro-, Meso-, Mikroebene überhäuft werden. Im Gedächtnis geblieben sind die Aussagen „Die Vermutung, mehr Schule ist gleichbedeutend mit mehr Leistung, steht auf hölzernen Füßen“, „In knapp 50 Prozent der Fälle war das Kollegium nicht in die Implementierung des Ganztagsbetriebs an der eigenen Schule eingebunden“ (aus der Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen, 2005), und als persönliche Erfahrung aus seiner Tätigkeit als Ausbilder von Erstsemestern „Nur zehn Prozent der Studierenden wollen an Ganztagsschulen unterrichten.“
Ein Befund mit Sprengkraft, angesichts der stürmischen Entwicklung. Wo wollen die Studierenden arbeiten?  In Hessen sind bereits 30 Prozent der Schulen Ganztagsschulen. Tendenz steigend.

Erfolgskriterien für Lehrkräfte

„Wir müssen den Schub nutzen, auch wenn keine Bundesmittel mehr fließen, und Kontinuität in die Ausbildung bringen“, forderte Stefan Appel. Der Bundesvorsitzende des Ganztagsschulverbands GGT e.V. hatte mit einer Negativ-Liste für Irritation gesorgt. Er referierte 22 von erfahrenen Ganztagsschul-Lehrkräften und -Leitern genannte Qualifikationslücken und Verhaltensdefizite bezüglich des Lehrpersonals an Ganztagsschulen. Kritisiert wurden u.a. „fehlende Einsicht, den unterrichtlichen wie den außerunterrichtlichen Bereich in gleicher Gewichtung zu akzeptieren“ sowie „geringe Befähigung, anregende und anspruchsvolle Angebote im Projekt- und AG-Bereich zu realisieren“. Ergänzend stellte er die Ergebnisse einer Umfrage an 170 Schulen vor. Auf die Frage Welche Fähigkeiten, Qualifikationen, Einstellungen halten Sie bei Ganztagsschul-Lehrkräften für wichtig? seien an erster Stelle genannt worden: Freizeitpädagogisches Grundwissen, Ernährungswissen, Methodenkompetenz, Spielpädagogisches Grundwissen, Animationstalent, Projektgestaltungsfähigkeit, Sozialpädagogische Kompetenz, Lehr- und Begeisterungsfreude, Engagement, Grundkenntnisse über gesellschaftliche Schichten sowie Sinn für Gemeinschaftsidentifikation. „Das kann man in der Ausbildung nicht einfach ignorieren. Die neue Lehrergeneration muss zumindest die Grundlagen der Ganztagsschulbewegung draufhaben“, bilanzierte Stefan Appel.

Nicht nur eine Seifenblase

Wie geht es weiter? „Ich gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge, ich habe viel Skepsis gehört, aber auch neue Ideen, wie man Professionen zusammenbringt“, beschrieb Wolf Schwarz die Gemütslage.
Wer die Arbeit der DKJS kennt, weiß dass dieses Forum keine Seifenblase sein soll. Programmleiterin Maren Wichmann versprach: „Wir sind bereit den Diskurs zu organisieren. Der Programmbeirat wird über eine Fortsetzung nachdenken.“

Wünschen wir uns also weitere Veranstaltungen wie diese, mit differenzierten Analysen, manchem Aha-Erlebnis, lebhaftem Meinungsaustausch in den Fachforen und nachvollziehbaren Gedanken mit Sog-Wirkung. Tragen wir die Anregungen weiter und denken daran, wer nur Ergebnisse betrachtet, und zugleich meint Gewissheiten für die Zukunft zu besitzen, greift zu kurz.

 

Autor: Karsten Holzner

Datum: 13.10.2010
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