Eine Schule im Fusionsprozess

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An der Realschule plus Diez lernen Haupt- und Realschüler gemeinsam. Noch sind nicht alle Berührungsängste abgelegt, doch das Modell birgt Chancen für beide Schulformen.

Von Katharina Zabrzynski

Ethikunterricht in der Klasse 9 der Realschule plus Diez. In Gruppen arbeiten Schülerinnen und Schüler an Projekten zum Thema Cybermobbing, sie planen eine Fotostory, zeichnen Comics oder bereiten eine AG zur Mobbinghilfe vor. An sich nichts Ungewöhnliches, doch die Klasse ist für die Schule ein Experiment. Erstmals besuchen Haupt- und Realschüler gemeinsam den Unterricht. Zwei der insgesamt fünf Gruppen sind gemischt. In der ersten, einer reinen Jungengruppe sind die Gespräche verhalten, noch ist man nicht so richtig warm miteinander geworden. Anders die Situation in der zweiten gemischten Gruppe: Emma ist hier die einzige Hauptschülerin, lebhaft diskutiert sie mit den Realschülerinnen über die Requisiten für die Fotostory. „Emma ist eine von uns“, so die Mädchen. Emma wechselte aber auch erst dieses Schuljahr von der Real- auf die Hauptschule. „Nächstes Halbjahr möchte ich zurück an die Realschule. Wenn meine Leistungen stimmen“, sagt sie.

Bereits vor einem Jahr fusionierten die Realschule Diez und die Oranienschule Altendiez zu der neuen Realschule plus. Dieses Schuljahr sind die Hauptschülerinnen und Hauptschüler an ihren neuen Standort umgezogen. Der Unterricht findet weiterhin getrennt statt. Nach der gemeinsamen Orientierungsstufe in den Klassenstufen 5 und 6 begegnen sich die  Haupt- und Realschüler nur noch auf den Fluren und auf  dem Schulhof. 

Einzige Ausnahme

Das Fach Ethik ist bis jetzt die einzige Ausnahme: wegen der niedrigen Teilnehmerzahl hat es sich nicht gelohnt, für jede Schulform eine eigene Klasse einzurichten. Die Realschullehrerin Sylvia Robinson-Wilbert ist mit ihrer neuen Klasse zufrieden. „Alle machen mit. Bis jetzt sind mir auch keine Leistungsunterschiede aufgefallen“, sagt sie. Und wie kommen die Schülerinnen und Schüler miteinander aus? „Viele sehen wie Harz IV aus“, sagt eine Realschülerin. „Es gibt türkische und marokkanische Gangs, die reißen coole Sprüche und wollen kein Deutsch sprechen“, fügt ihre Freundin hinzu. Aber an sich hätten sie nichts gegen die neuen Mitschülerinnen und Mitschüler, viel mehr würden sie sich über einige Gymnasiastinnen und Gymnasiasten ärgern, mit denen sie den Schulhof teilen. „Für die sind wir jetzt die Restschule“, sagen sie. Die Hauptschülerin Emma hat aber auch andere Erfahrungen gemacht. „Manche Realschüler sagen: Was wollen die doofen Hauptschüler hier?“, erzählt sie.

Es braucht nun mal Zeit, bis alle Vorurteile abgelegt sind. „Auch wir Lehrer hatten zunächst Angst, unsere Identität zu verlieren“, gibt Robinson-Wilbert zu. Die meisten der neuen Kollegen sitzen aus Platzgründen in einem eigenen Lehrerzimmer, man lernt sich trotzdem langsam kennen: „Unsere Postfächer befinden sich im neuen Lehrerzimmer. Das ist clever. Weil man jeden Morgen dort vorbeigehen muss, unterhält man sich miteinander“. Dabei sind es nicht nur die persönlichen Kontakte, die noch aufgebaut werden müssen. „Beide Kollegien haben unterschiedliche Schulkulturen mitgebracht, die aufeinander abgestimmt werden müssen“, erklärt der Konrektor Heinz-Dieter Scheid, „da kommt es schon vor, dass wir bei einer Konferenz eine Stunde lang darüber diskutieren, ob die Schülerinnen und Schüler Eddings benutzen dürfen“.

Schulfusion bietet Chancen

Doch so aufwändig ein solcher Fusionsprozess auch ist, er birgt enorme Chancen für die Schülerinnen und Schüler. Demnächst plant die Realschule plus eine Kooperation mit der nahe gelegenen, berufsbildenden Nicolaus-August-Otto-Schule (NAOS). Gerne möchte man den Maschinenpark und die Fachräume der Partner mitbenutzen sowie bei den Schul- AGs zusammenarbeiten. „Für die Realschülerinnen und Realschüler wird dadurch ein nahtloser Übergang zu berufsbildenden Schulen entstehen“, so Scheid, „und für die ehemaligen Hauptschülerinnen und Hauptschüler, die keinen Abschluss schaffen, bietet die NAOS ein Berufsvorbereitungsjahr an. Indem wir beide Schulen eng miteinander verzahnen, sorgen wir für eine schulische Bildung ohne Brüche.“  

Bei Arbeitsgemeinschaften arbeitet die Realschule plus bereits eng mit dem Sophie-Hedwig-Gymnasium zusammen. „Wir bieten im Ganztagsbereich 15 AGs, im Halbtagsbereich mehr als 25 AGs an. Durch die zusätzlichen Schülerinnen und Schüler können wir dieses Angebot noch stärker erweitern“, sagt Scheid, während er die neuen Fachräume zeigt. Im Technikraum stehen Werktische aus der Oranienschule, im Raum nebenan ein Dutzend Nähmaschinen aus der alten Hauptschule. Auch das ist ein Vorteil der Schulfusion. 

Vor kurzem hat die Realschule plus entschieden, sich den Namen Theodissa zu geben. Der alte fränkische Name von Diez soll integrierend wirken. Damit sich alle mit ihrer Schule identifizieren, werden gerade Sweatshirts mit dem neuen Schullogo verkauft. Das Logo stellt den Schulnamen und das Wahrzeichen der Stadt, das Grafenschloss, dar. Eine Werbeagentur entwirft gerade Flyer, die über die Vorteile der neuen Schule informieren sollen.

Professionalisierung

Seit 2010 nimmt die Realschule plus Diez am Netzwerk „Veränderungsmanagement“ der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung teil. Der Schule ist hier vor allem der Austausch mit der Theodor-Storm-Gemeinschaftsschule aus Kiel wichtig. „Die Kieler haben ihren Fusionsprozess ein Jahr früher begonnen und können uns viele Tipps geben“, sagt Scheid. So stammt die Idee einer besseren Öffentlichkeitsarbeit von den Partnern aus Kiel. Der Austausch mache auch Mut. „Es tröstet, wenn wir erfahren, dass die Probleme, mit denen wir uns gerade herumschlagen, auch in Kiel Thema waren, jetzt aber gelöst sind.“

Und manches nehmen die Schülerinnen und Schüler selbst in die Hand. Michael Wieczorek wechselte vor zwei Jahren von der Haupt- auf die Realschule. Der Zehntklässler kennt beide Seiten. Gern geht er dazwischen, wenn sich Hauptschüler über die „Streber“ von der Realschule aufregen oder seine neuen Freunde mal wieder über die „dummen Ausländer von der Hauptschule“ herziehen. „Ich sage dann, ich bin auch ein Ausländer. Und, bin ich deshalb dumm?“, so der gebürtige Pole. Aber auch das Gymnasium hat jetzt ein Zeichen gesetzt. „Neulich haben uns die Gymnasiasten eine Aktion vorgeschlagen, bei der alle die gleichen Klamotten tragen“, erzählt er. „Auch wenn sie sich manchmal für etwas Besseres halten, damit haben sie gezeigt: wir sind alle ein Schulzentrum.“

Datum: 
16.10.2011

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