Ganztagsschule verändert - Eindrücke vom 8. Ganztagsschulkongress in Berlin

Schulfusionen, die Nutzung des Internets im Unterricht, Kooperationen mit außerschulischen Partnern – das sind nur einige der Veränderungen, mit den Ganztagsschulen konfrontiert sind. „Ganztagsschule verändert!“ lautete deshalb das Motto des diesjährigen Ganztagsschulkongresses und unsere Reporterin hat sich an die Fersen eines Schulleiters und einer Schülerin geheftet, die zum Kongress angereist waren.

von Britta Kuntoff

Freitagmorgen, kurz nach neun Uhr.

Dieser Novembertag macht seinem Namen keine Ehre. Bei strahlendem Sonnenschein öffnen die Geschäfte auf dem Alexanderplatz, an ihnen vorbei hasten Frauen und Männer auf dem Weg zur Arbeit. An der Fußgängerampel, die über die Alexanderstraße führt, ist heute besonders viel los. Als sie auf Grün umschaltet, wandert die Menschentraube fast geschlossen zu den Eingangstüren des Berliner Congress Centers, dem Tagungsort des 8. Ganztagsschulkongresses 2011. Es sind viele, die da kommen, aber es ist keine graue Masse. Hinter jedem der rund 1.200 Teilnehmer, die aufgebrochen sind, um an den nächsten zwei Tagen Vorträge zu hören, in Workshops zu arbeiten, sich zu treffen, zu informieren und zusammen zu feiern, steckt ein Lehrer oder eine Schulleiterin, verbirgt sich die Schülervertreterin und der Sozialpädagoge oder die Repräsentantin einer bildungspolitischen Organisation. Sie alle sind mit ganz eigenen Erwartungen und Ansprüchen, Fragen und Antworten nach Berlin-Mitte gereist. Was sie eint, ist das feste Wissen, das Schule Veränderung braucht. Dringend.

Carsten Haack ist Schulleiter an der Theodor Storm Gemeinschaftsschule in Kiel. Seit seine Schule 2007 zur offenen Ganztagsschule wurde, reisen er und seine Konrektorin Marlies Sick zum jährlichen Ganztagsschulkongress, den das Bundesministerium für Bildung und Forschung und die Kultusministerkonferenz in Kooperation mit der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung veranstaltet.
Für den Carsten Haack ist die Kongressteilnahme eine Selbstverständlichkeit und ein echtes Anliegen. Gerade in diesem Jahr, in dem die Tagung unter dem Motto „Ganztagsschule verändert!“ steht. Viele der Eltern seiner 625 Schüler beziehen Transferleistungen; die Gemeinschaftsschule zählt zu denjenigen, an die man das Etikett Brennpunktschule heftet. Der Schulleiter ist sich sicher: „Die Gesellschaft, die Familien sind heute anders als früher. Eine Veränderung der Schule ist deshalb mehr als überfällig.“



Eigentlich wollte sich Carsten Haack in Ruhe der Ausstellung der Serviceagenturen und deren Beispielschulen auf den drei Ebenen widmen, bevor die ersten Vorträge beginnen. Doch er kommt nicht dazu. Just ist er vor dem Stand der Grund- und Oberschule Heinrich Julius Bruns aus Lehnin stehen geblieben, da trifft er schon ein bekanntes Gesicht. Der Austausch beginnt. Für Carsten Haack - und für jeden, der das Gebäude rechts neben dem Haus des Lehrers betritt: Kaum ein Platz, an dem nicht schon wenige Minuten nach Veranstaltungsbeginn diskutiert, genickt und gestikuliert wird. Ein Bienenschwarm mit Namensschildern, der sich mit einer Geräuschkulisse aus Wortfetzen, Murmeln und Lachen in alle Winkel verteilt.

Zehn Uhr.

„Jetzt gucken wir mal, was uns die Politiker zu sagen haben.“ Der 44jährige Schleswig-Holsteiner macht sich über die breite Wendeltreppe auf zum Kuppelsaal. Der ist fast bis auf den letzten Platz gefüllt. Carsten Haack ist begeistert, aus gutem Grund: „Ich war beim Vorbereitungsworkshop dieses Kongresses mit dabei und habe angeregt, passend zum Inhalt Veränderungsmanagement auch räumlich alles auf den Kopf zu stellen.“ Statt einer erhöhten Bühne mit Frontalbeschallung gruppieren sich die Teilnehmer diesmal amphitheatermäßig um eine Bühne unten in der Mitte. „Das steht symbolisch für den Wechsel von gewohnten Blickwinkeln und alten Perspektiven. Dass ich einen Impuls geben konnte, freut mich sehr.“



Das Licht erlischt, das offizielle Kongressprogramm beginnt. Über zwei Stunden Musik und Reden, Vorträge und kurze Filme. Leichte Kost und informationsgeballte Beiträge. Später wird Carsten Haack sagen, dass sich für ihn der Kongressbesuch allein schon für diesen Vormittag gelohnt habe. „Vor allem der Vortrag der Zukunftsforscherin Jeanette Huber hat mir gefallen. Sie hat deutlich gemacht, in welch komplizierter Situation wir stecken. Wenn wir heute nicht einmal die Fragen von morgen kennen, dann zeigt das, wie stark wir als Schule hinterher sein müssen, um den Anschluss nicht zu verpassen.“ In einem komplexen System gibt es keine einfachen Lösungswege. „Das macht mir auch ein bisschen Druck. Wir Lehrer tragen viel Verantwortung“, meint Haack, „dieser Gedanke motiviert mich zugleich sehr.“

Zum Mittag gibt es vegetarische Lasagne, süßes Mousse und ein Kollegengespräch, schon ist es Zeit für den ersten Workshop. Carsten Haack stellt im Workshop des Netzwerks Ganztagsschule, in der die Kieler Schule mit 50 anderen Ganztagsschulen zusammenarbeitet, die Öffentlichkeitsarbeit und die neue zweisprachige Homepage seiner Schule vor. Die Teilnehmer gehen gemeinsam der Frage nach, welche Rolle eine gemeinsame Vision und die Identifikation mit der Schule in einem Veränderungsprozess spielen. Der Workshop ist eine Kontaktbörse für die, die vor den gleichen Herausforderungen stehen. „Ich bin gespannt, wer da kommt und ob ich etwas lernen kann“, berichtet Haack.



Im zweiten Workshop ist er selbst Gast. Überschrieben ist der mit dem Thema „Unternehmen Schule - Schulleiter als Manager?“. Ein voller Raum und Teilnehmer, die sich in kleinen Stuhlkreisen austauschen. Carsten Haack nimmt daraus mindestens eine Anregung mit: „Ich werde über ein Coaching nachdenken, mir fallen da schon konkrete Ansprechpartner in Kiel ein“, berichtet er.

Der Schulleiter in seiner blauen Sweatshirtjacke mit dem Schulemblem hat eine ganze Palette neuer Ideen gesammelt. „Der Kongress bestärkt mich in meinem Vorhaben Schulveränderung. Das Leben ändert sich, jeden Tag. Diesen Weg müssen wir mitgehen“, ist sich Haack sicher. Heute führt sein Weg allerdings nur noch zum abendlichen Empfang der DKJS und der Jacobs Foundation. Er hat es sich verdient.

Am nächsten Morgen...

...ist Berfin Celens erster Kongressgang der zum Chill-out-Raum. Aha, ganz klar, die 17jährige Leverkusenerin war gestern Nacht in den Clubs der Hauptstadt unterwegs. Falsch gedacht, falsches Klischee. „Ich bin hier, weil ich diskutieren will, Berlin kann ich mir ein anderes Mal anschauen“, sagt sie und legt schnell ihre Jacke im Ruheraum ab. Auf hohen Absätzen stöckelt die Schülerin des Freiherr-von-Stein-Gymnasiums am Stand mit den Käsecroissants vorbei, um sich dann an orangenen Tischen und unter bunten Lampions zu Gesprächen mit anderen Jugendlichen zu treffen. Bereits seit Mittwoch arbeiten rund 100 Schülervertreter aus ganz Deutschland gemeinsam und intensiv zum Thema Veränderung.

Berfin hat Herbstferien. Was bringt sie dazu, hier die Kongressbank zu drücken? „Veränderung ist enorm wichtig. Ohne sie würde es wohl noch den Rohrstock geben“, erklärt sie energisch und fügt hinzu: „Hier entsteht ein Forum der Schüler. Und nichts ist besser, als wenn wir auch mal unsere Meinung geigen. Die Verantwortlichen denken, sie wissen, was gut für uns ist. Das ist nicht so. Warum fragen die uns nicht? Wir müssen schließlich zur Schule gehen und das ertragen.“

Schulstaub aufwirbeln.

Berfin hat sich dazu den Workshop „Digitales Lernen – der Unterricht von morgen?“ ausgesucht. „Ich frage mich, wie sich Schule öffnen kann. Fakt ist: Es gibt die digitale Welt, die Schule kann sie nicht draußen lassen“, meint Berfin. Der Raum A4 ist gut besucht, Berfin setzt sich in den innersten Stuhlkreis.
Ins Zentrum, genau gegenüber dem Professor, der Schulrätin und den beiden Schulleitern. Die zierliche Berfin ist sehr selbstbewusst.

Als in Kleingruppen gearbeitet wird, trägt Berfin die Ergebnisse aus den Gesprächen mit Lisa, 17, und Heinz-Wihelm, 19, vor. Sie ernten spontanen Applaus. Keiner der etwa 50 Erwachsenen hat vorher an Fragen wie etwa den hohen Stromverbrauch von Laptops im Unterricht oder an ein mögliches Mobbing aufgrund unterschiedlicher Computermodelle gedacht. Und außerdem: Kriegen Lehrer, die oft am Einschaltknopf des Overhead-Projektors scheitern, es hin, einen Laptop zu bedienen?

Aspekte, die das Plenum in die Diskussion mit aufnimmt. „Ich hatte die Befürchtung, dass die Lehrer uns nicht ganz ernst nehmen. Aber denen hat unser Beitrag wohl echt gefallen. Dass die gedacht haben, wir haben recht. Das hat meine Erwartungen mehr als erfüllt“, resümiert Berfin zufrieden.

Im Raum ist die Luft verbraucht. Öffnen und Frisches reinlassen. Berfin ist die Erste, die nach dem Fachreferat Fragen stellt, dem Dozenten widerspricht und eine Website empfiehlt. Sie ist die, die der Schulleiterin, die zögert, ihre Computerpräsentation zu starten, freundlich zuruft, sie solle einfach auf Okay drücken. Nach der Präsentation tauscht sie ihre E-Mail-Adresse mit der Referentin. „Ich werde Ihnen schreiben“, versichert sie. Kontakte sind wichtig, weiß Berfin: „Das ist das Gute, dass man hier andere Menschen kennenlernt und von Dingen erfährt, an die man vorher gar nicht gedacht hat und die man selber ausprobieren sollte.“

Berfin gehört zu den Letzten, die den Tagungsraum verlassen, und eilt nach oben in den Kuppelsaal, wo der Kongress in diesem Jahr auf eine besondere Art schließt: Der Kongressfilm mit den Eindrücken der Veranstaltung ist mittlerweile zur Tradition geworden. Zu sehen ist diesmal noch ein zweiter Film: Der Comedian Carsten van Ryssen ist durch das Congress Center geeilt und hat in heute-show-Manier Meinungen mit dem Mikro eingeholt. Natürlich zum Thema Veränderung.