Reportage vom Ganztagsschulkongress 2009

 


Der diesjährige Ganztagsschulkongress stand unter dem Motto „Raum für mehr – Qualität an Ganztagsschulen“ und verweist auf den Raum als dritten Pädagogen. Architektur schafft, gestaltet und gliedert Raum. Pädagogik füllt den Raum mit Leben und will ihn zu einem guten Lern- und Lebensort, zu einem erweiterten Handlungsraum für Kinder und Jugendliche entwickeln.

Bundesbildungsministerin Annette Schavan weist zu Beginn der Veranstaltung eine stolze Bilanz vor. In den vergangenen fünf Jahren hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung den Aus- und Aufbau von Ganztagsschulen mit insgesamt vier Milliarden Euro unterstützt. Das Investitionsprogramm des Bundes „Zukunft Bildung und Betreuung“, das im Dezember ausläuft, hat Bau- und Ausstattungsinvestitionen von 7.200 Schulen gefördert. Mit dem Ende des Investitionsprogramms soll aber kein Nachlassen in Sachen Bildung einhergehen. „Das Programm ‚Ideen für mehr. Ganztägig lernen.’ wird weitergehen“, verspricht die Ministerin, und soll Ganztagsschulen bei ihrer Qualitätsentwicklung durch Fortbildung und fachlichen Austausch unterstützen. „Unser Ziel ist die beste pädagogische Qualität für unsere Ganztagsschulen“, betont Annette Schavan.

Zentraler Bestandteil des Programms sind die bereits etablierten Serviceagenturen in bislang 15 Bundesländern. Diese sind gemeinsam mit den zuständigen Ministerien Ansprechpartner für die Schulen und Schnittstellen zum bundesweiten Programmangebot. Eva Luise Köhler, Schirmherrin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS), eröffnete den Kongress mit dem Appell, sich auch in Zukunft an die Servicestellen vor Ort zu wenden: „Die bisherigen Erfahrungen im Programm ‚Ideen für mehr. Ganztägig lernen.’ sowie die Evaluation haben bescheinigt, dass die Servicestellen mit ihren regionalspezifischen Angeboten die Schulen merklich in ihrer Entwicklung unterstützen. Und das, worauf man seine Aufmerksamkeit richtet, wird mehr.“

Ganztagsschule öffnet Räume

„Sie ist ein wesentlicher Schritt zur besseren, kontinuierlichen Entwicklung der Kompetenzen aller Kinder und Jugendlichen. Da gibt es kein Nachlassen“, erklärte der Präsident der Kultusministerkonferenz, Henry Tesch, denn „Bund und Länder können gemeinsam mehr“. Immerhin haben die 14 beteiligten Bundesländer 2008 das Ganztagsschulprogramm mit knapp zwei Milliarden Euro kofinanziert. Nach dem beeindruckenden Zahlenwerk der letzten Jahre ist die jährliche Förderung der Serviceagenturen vor Ort bis zum Jahre 2014 mit vier Millionen Euro karg bemessen. Doch das konnte die Freude der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf den Kongress nicht trüben, der – nun auch schon wie immer – von einem schmissigen Kulturprogramm und der professionellen Moderation von Inka Schneider begleitet wurde. Aber nicht nur den Ohren wurde Rapiges, Jazziges, Tiefsinniges, Wissenswertes, Neues, Lustiges und Ernsthaftes geboten. Mit zahlreichen Filmbeiträgen, Ständen der Ausstellerschulen, Kooperationspartner und Serviceagenturen und einem Novum, dem Architekturzelt, wurde den neugierigen Augen Informatives nuancenreich präsentiert.

Was hat Bauen mit Bildung zu tun? Dieser Frage stellten sich Dr. Heike Kahl, Geschäftsführerin der DKJS, und Professor Michael Braum, Architekt und Planer, der an der Universität Hannover lehrt. Manchmal muss man Wände aufbrechen und Denken in Konventionen vergessen, um Raum für Freiheit, gute Lernmöglichkeiten und sozialen Raum zu schaffen. In diesem Punkt waren sich die beiden einig. „Der kommunale Raum hilft, die Arbeitsteilung der Entfremdung aufzuheben. Eine gute Ästhetik verbessert das Klima und Lernen“, meint Heike Kahl. „Das Wichtigste sind motivierte Menschen und die Pflege des Raumes“, erklärt Professor Braum. „Raum hat etwas mit Aufrechtsein zu tun, mit der Suche nach dem Glück der Kinder“, so wurden die Gäste des Kongresses entlassen, um sich auf die Suche nach den Räumen zu begeben, in denen das umfangreiche Angebot von Themen in Foren, Werkstätten und Arbeitsgruppen stattfand. Unterstützung erhielten sie von zahlreichen freiwilligen Helfern, die schwarz gewandet und gut gelaunt für Rat und Tat zum perfekt organisierten Kongress zur Verfügung standen.

Nachgefragt – Schülerperspektiven

Die Schülerräume zu finden, war leicht. Lachen und quirlige Bewegungen weisen den Weg. Maggie, 18 Jahre, ist die Moderatorin des Workshops „Feedback in der Schule“, in dem sich Schülerinnen, Schüler, Schülervertretung, Schülerreporter mit erwachsenen Bildungsfreaks zusammenfinden. Hussein ist mit 14 Jahren der Jüngste in der Runde. Das Durchschnittsalter der Kongressteilnehmer ist in diesem Raum deutlich gesunken und das gefühlte Alter nach Ende der lebendigen Diskussion ebenfalls rapide gefallen. Nach Einführung der Feedbackregeln kann es losgehen mit Fragen, was ist eine gute Feedbackkultur in der Schule sowie wann, wo und wie ein Feedback erwünscht ist. Ein Ergebnis ist, dass Schülerinnen sich beiderseitige Rückmeldung wünschen, regelmäßig, aber nicht ritualisiert. „Wenn Feedback läuft, dann geht es meist von den Schülern aus“, meint Fritzi, die sich nicht sicher ist, ob Lehrkräfte gut mit Schülerrückmeldungen umgehen können. „Fragebögen sind enervierend, entscheidend sind einfache Methoden wie die Grün (gefällt)-Rot (gefällt nicht)-Karte oder das Spiegelei, in dem Punkte nahe dem Gelben positive Rückmeldungen signalisieren“, fasst ein 61-jähriger Lehrer die Meinungen seiner Diskussionsrunde zusammen. Natürlich gibt es für diesen Workshop ein Feedback, das die Teilnehmer auf roten und grünen Karten notieren können. Wen wundert`s, dass bei dieser Auswertung Grün siegt.

ToiToiToi

Die Joseph-von-Eichendorff-Schule, Kassel, zeigte in dem Workshop „Raumnutzung und Gestaltung“ mit dem Schulprojekt ToiToiToi, wie mit der Sanierung von Schultoiletten sich das beileibe nicht stille Örtchen fünf Sterne verdient. Auf Drängen der Schülerinnen und Schüler wurde die längst überfällige Sanierung der Toiletten in Angriff genommen. „Das Geld für eine Standardsanierung reichte für unsere Wünsche nicht aus. Wir wollten im Grunde alle das Gleiche: Einen Raum mit schönen Kacheln, großen Spiegeln, helles Licht und Musik, die uns gefällt“, berichten Vanessa und Janina Peter, zwei ehemalige Schülerinnen, die aktiv an dem Abriss und Aufbau neuer Toiletten beteiligt waren. Die Schülerinnen und Schüler machten sich auf den Weg, um Geld, viel Geld zu sammeln. Mit Kreativität und Eigeninitiative, durch Teilnahme an Wettbewerben, Tombolas, Spendenläufe und Presseaktionen konnten in Kooperation mit Ämtern, Betrieben und Eltern die Mehrkosten für die Traumtoiletten zusammengetragen werden. „Da muss man pfiffig, frech und mutig sein und die Grenzbereiche ausloten, fasst Jürgen Fischer, stellvertretender Schulleiter, zusammen.

Die Umsetzung des Projektes stößt auf einhellige Begeisterung im Saal, löst aber auch Erstaunen aus. „Gelingt es denn die Toiletten so schön und sauber zu erhalten“, fragt eine Teilnehmerin. „Das ist doch unsere Schule, unser Projekt, da achten wir selbst drauf. Wir haben eine Tafel angebracht, worauf jeder seine Meinung schreiben kann“, erwidert Vanessa Peter. Aber ganz von selbst und so leicht lässt sich das Toilettenproblem nun doch nicht lösen, wie die kontrovers geführte Diskussion zeigt. Die Schule hat eine „Toilettenpolizei“ eingerichtet, mit der die Schülerinnen und Schüler die Aufsicht und Kontrolle in den Pausen über die Toiletten für 2,50 Euro pro Tag übernehmen. Und es gibt Nottoiletten, die in Ausnahmefällen während des Unterrichts aufgesucht werden dürfen und für die nur mit Hinterlegung der Unterschrift ein Schlüssel erhältlich ist. „Das Toilettenproblem ist wie das Rauchverbot schier unlösbar“, beklagt Jürgen Fischer und erntet große Zustimmung des Plenums. „Sagen häufige Toilettengänge von Schülern nicht auch etwas über die Qualität des Unterrichts aus“, fragt ein Schüler. Eine berechtigte Frage, die einmal mehr auf die vielschichtigen Dimensionen qualitativer Schulentwicklung hinweist.

Vier Stunden Schlaf und ohne Make-up

Mit diesem Statement eröffnete Jürgen Oelkers, Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Zürich, seinen ungeschminkten Vortrag über die besondere Qualität von Ganztagsschulen den Tag danach – nach einem langen, ersten intensiven Kongresstag, reich gefüllt mit Anregungen und Gesprächen, der mit einem Empfang, ausgerichtet von der Jacobs Foundation, gekrönt wurde. Der konstruktive Austausch mit dem anderen ist zu einem Qualitätsmerkmal des Kongresses geworden. Das spürt man deutlich.

Um Qualität in die Ganztagsschule zu bringen, plädiert Jürgen Oelkers für eine entschiedene Kommunalisierung und Öffnung der Schulen. „Nur mit autonomen Schulen, die ihre Budgets und Zeit selbst einteilen, aktiven Rückmeldesystemen von Schülerinnen und Schülern sowie Integration von außerschulischen Partnern, gelingt Qualitätssicherung“, versichert der Pädagoge. Dazu müsse man die „fünf Stunden Heiligkeit Mathematik in der Woche stürzen“ und sich vom rein unterrichtsbezogenen Lernkonzept verabschieden. In der Schweiz wurde das Modellprojekt Selbstlernsemester in einem Gymnasium eingeführt. Hier wird das Lernpensum in einen Semesterauftrag formuliert, Aufgaben und Lernziele definiert, die die Schüler eigenständig erarbeiten. Die Lehrkräfte fungieren als Coachs und Berater und bereiten verschiedene Prüfungsformen vor. Die Schüler lernen den Stoff mit Wochenplänen, ohne unterrichtet zu werden. Die Evaluation habe gezeigt, dass es keine Leistungseinbrüche gegeben habe, vielmehr war diese Form des Lernens deutlich erfolgreicher und hat die Selbstorganisation der Jugendlichen verbessert, lautet das Resümee von Jürgen Oelkers.

Der Kongress tanzt

Wie alle guten Geschichten hat auch ein Kongress mal ein Ende, das dieses Mal durch die JugendBigBand Neubrandenburg swingend eingeläutet wurde. Die geballten Eindrücke des Kongresses machten sich in einer hottigen Tanzeinlage von Teilnehmerinnen und Teilnehmern Luft. Im wahrsten Sinne ein bewegender Abschied und eine Abstimmung mit den Füßen, im nächsten Jahr wiederzukommen. Armin Himmelrath, Bildungsjournalist, kreierte in der Präsentation der Kongressergebnisse die eindrucksvolle These von den Gymnasien als künftige Problemschulen. Dieses Bonmot griff Kornelia Haugg, Abteilungsleiterin im Bundesministerium für Bildung und Forschung, auf und versprach, die Gymnasien beim nächsten Kongress schärfer in den Blick zu nehmen und Hausaufgaben zu den Themen Beziehungsqualität und Multiprofessionalität zu erledigen. Mit einem Dank für die Lust und Freude der Gäste des Kongresses auch nach 18 Uhr zu denken und sich intensiv auszutauschen, verabschiedete sich Heike Kahl und forderte die Anwesenden auf: „Nehmen Sie sich und uns in Anspruch.“

 

Autorin: Dr. Cornelia Alban

Datum: 04.01.2010