Bei Ganztagsschulen wollen alle mit gestalten



Zum fünften Ganztagsschulkongress in Berlin verspricht Bundesbildungsministerin Annette Schavan, Ganztagsschulen weiter zu begleiten

Eine Reportage von Christine Plaß

Das Fernsehen ist da, Radio und Zeitungen sind gekommen. „So viel Interesse wie in diesem Jahr gab es noch nie“, sagt Inga Cordes am Pressestand der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS). Bildung ist Spitzenthema in Deutschland - endlich! In wenigen Wochen ruft Bundeskanzlerin Angela Merkel Bund und Länder zum Bildungsgipfel zusammen. Dabei werden Ganztagsschulen zentrales Thema sein, und zwar auf ausdrücklichen Wunsch der Länder, wie aus dem Bundesbildungsministerium zu hören ist.

Außerordentliches Lob für die Serviceagenturen


Der Ehefrau des Bundespräsidenten, Eva Luise Köhler, ist Bildung schon lange Herzensangelegenheit: „Als Schirmherrin der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung setze ich mich ganz bewusst für Ganztagsschulen ein, weil ich überzeugt bin, dass sie ein Modell sein können, mit dem Chancengleichheit erreicht werden kann“, erklärt sie bei der Pressekonferenz. Bundesbildungsministerin Annette Schavan, die den Kongress eröffnet, hat eine Überraschung mitgebracht: Auch nach Auslaufen der so genannten IZBB-Mittel für den Ausbau von Ganztagsschulen will ihr Ministerium das qualitätsorientierte Begleitprogramm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ weiter finanzieren.

„Ich finde, dass die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung und ihre Partner hier eine außerordentlich gute Arbeit geleistet haben und werde mich dafür einsetzen, dass diese Arbeit über das Jahr 2009 erhalten bleibt“, erklärt Schavan und erntet tosenden Applaus im bis auf den letzten Stuhl gefüllten berliner congress center. Es waren vor allem die 14 Serviceagenturen in den Ländern, die bis zu diesem Zeitpunkt um ihre Existenz nach 2009 bangen mussten. Dabei sind sie für viele Schulen verlässliche Partner: Sie unterstützen bei der konzeptionellen Weiterentwicklung, sorgen für Fortbildung und Vernetzung.

Auch Annegret Kramp-Karrenbauer, Präsidentin der Kultusministerkonferenz, hebt hervor, für wie unverzichtbar sie die Unterstützung hält: Jede Serviceagentur im Land sei in der Lage, auf die Gegebenheiten vor Ort zu reagieren. Und sie stellt fest, dass es für die möglichst breite Akzeptanz von Ganztagsschulen unerlässlich sei, die unterschiedlichen Beteiligten an einen Tisch zu bekommen. Etwas, was der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) besonders gut gelänge. Mit Blick auf die Schüler sagt sie: „Wenn Kinder und Jugendliche den ganzen Tag in der Schule sind, geht das nur, wenn sie als gleichberechtigte Partner miteinbezogen sind.“ „Schule gemeinsam gestalten“ ist also erfolgsrelevant und weit mehr als das diesjährige Kongressmotto.

Manche muss man erst ermutigen

 

Beim Kongress erleben die Teilnehmer gleich ganz praktisch, wie es ist, wenn alle darüber mitbestimmen, wie Schule sein soll. Die Jüngsten sind noch keine 14 Jahre alt. Sie kleben und basteln ihre Visionen.

 

„Kein Streit“ lautet eine. Die älteren Jugendlichen trafen sich schon im Sommer zu eintägigen Vorbereitungsworkshops, „während andere im Schwimmbad lagen“, wie Moderatorin Inka Schneider verrät. Von der Hauptschule Falkenberg in Norderstedt, Schleswig-Holstein, war zwar kein Schüler dabei, doch ihr Schulleiter Gerhard Lühr erhofft sich Anregungen. Er möchte vor allem Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Familien dafür gewinnen, ihre Ideen und Wünsche in der Schule einzubringen. „Manche Kinder wachsen in so schlimmen Verhältnissen auf, für die ist es schon eine riesige Leistung, es überhaupt jeden Tag in die Schule zu schaffen“, berichtet Lühr. Einige Beteiligungsformen hat er bereits ausprobiert. So ist es gute Tradition, dass er sich von den Abschlussklassen ein Zeugnis ausstellen lässt. Vertretungsstunden nutzt er am liebsten, um mit seinen Schülern darüber zu diskutieren, was sie an seiner Stelle anders machen würden.

Können Eltern sich wirklich sinnvoll engagieren?

In Hessen ist die Mitbestimmung von Eltern gesetzlich verankert. Dementsprechend engagiert sind viele Mütter und Väter. Die Serviceagentur Hessen hat sogar eine Eltern-Beauftragte. Und in Mecklenburg-Vorpommern lädt die Serviceagentur zu ihren Beratungen neben Lehrern und Schulleitern grundsätzlich auch Eltern und Schüler ein. Zwei Beispiele von vielen. Denn: Es gibt keine Serviceagentur, die nicht auf die Beteiligung von allen Partnern Wert legt.

„Nehmen Sie es nicht persönlich, wenn es Ihnen jetzt ins Herz schneidet“, rät Volker Wieprecht von Radio Eins, der das Diskussionsforum „Elternengagement“ im Kuppelsaal, dem zentralen Raum des congress centers, moderiert. In der Tat ist es nicht gerade schmeichelhaft, was Christian Füller von der Zeitung taz hier als Eingangsstatement formuliert. „Eltern sind doof“, lautet seine erste These und die zweite klingt nicht freundlicher: „Eltern sind egoistisch.“ Glaubt man Füller, haben Eltern überholte Vorstellungen von Bildung. Trotzdem kann man auf Eltern nicht verzichten, weiß auch der taz-Redakteur. Schulen seien im Beamtenmodus zwischen Lehrplänen erstarrt und die einzigen, die das aufbrechen könnten, seien eben die Eltern. Und so ist wenigstens seine dritte These „Eltern sind wichtig“ eine, die versöhnlicher stimmt. „Eltern können Forderungen an die Politik stellen, für die wir als Beamte nicht kämpfen dürfen“, meint auch eine Lehrerin aus Berlin-Neukölln. An ihrer Schule müssen aber erst einmal viele Eltern mit Migrationshintergrund die Angst vor den Lehrern abbauen. Eigens dafür gibt es eine dreisprachige „Eltern-Beauftragte“.

Die Angst des Lehrers vor der Note



Von Angst ist viel die Rede in diesen zwei Tagen. Mütter, die fürchten, nur Klagen über ihre Kinder zu hören. Schüler, die sich nicht trauen, ihre Meinung zu sagen. Lehrer, die sich an den Pranger gestellt fühlen, wenn sie im Internet bewertet werden. So wie bei spickmich.de. Im zweiten Diskussionsforum muss sich Manuel Weisbrod, der die Schülerplattform mit ins Leben gerufen hat, Kritik gefallen lassen. Schlechte Noten - anonym im Internet veröffentlicht - helfen einem Lehrer nicht, sich zu verbessern, lautet ein Vorwurf. Stattdessen sollte ein Feedback immer wertschätzend und beziehungsgebunden sein. Doch. Oggi Enderlein von der Werkstatt „Schule wird Lebenswelt“ im Programm „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ ergreift Partei für spickmich.de: „Schüler werden täglich von Lehrern gedemütigt, sie ziehen nicht vor Gericht, sie haben oft niemanden, bei dem sie sich beschweren können. Es ist ein Verdienst von Schülerinnen und Schülern, dass wir hier überhaupt über Feedback-Kultur diskutieren. Und es ist richtig, dass das, was in Schulen passiert, an die Öffentlichkeit gebracht wird.“

Nach intensivem Austausch in Arbeitsgruppen, Workshops und Diskussionsforen nutzen fast alle Kongressteilnehmer am Abend die Gelegenheit zum informellen Austausch beim Empfang der Jacobs-Foundation. Hier kommen sich Jugendliche und Erwachsene auch außerhalb moderierter Workshops näher. Die Mutigsten treffen sich beim Karaoke-Wettstreit im Nebenraum, die Nimmersatten diskutieren weiter – z.B. darüber, was aus den Bildungslandschaften geworden ist, die im letzten Jahr auf dem Kongress im Mittelpunkt standen. Ein Top-Thema bleibt auch am Abend die Zukunft der Ganztagsschule und die Nachricht des Tages, dass das Ganztagsschulprogramm fortgeführt werden soll.

Wie Visionen Wirklichkeit werden

Wie Visionen Wirklichkeit werden

Olaf-Axel Burow, Professor für Pädagogik an der Uni Kassel, will beim Benennen von Missständen nicht stehen bleiben. Besser werden die Dinge erst, wenn Menschen Visionen dafür entwickeln, was sie brauchen und wie sie zusammen arbeiten wollen. Er ist überzeugt: Selbst in einem ausgebrannten Kollegium, unter dem größten Frust, liegt ein Tiefenwissen, wie es besser gehen könnte. Burow ist einer, der Geld dafür bekommt, Menschen glücklich zu machen. Man könnte auch sagen: Er lässt die Leute spinnen. Politiker bringt er dazu, sich in die Arme zu fallen, gymnasiale Studienleiter kommen bei ihm auf Ideen wie „Das Amt muss strahlen!“. Klingt verrückt, aber scheint zu funktionieren. Am zweiten Kongresstag lässt er die Kongressbesucher in seinen Methodenkoffer blicken. Eine seiner Glücksmaschinen heißt „Zukunftswerkstatt“. Sie öffnet den Raum für transformatives Denken. Linear gedacht ist Zukunft nichts anderes als die Verlängerung von Vergangenheit. Lineare Denker können sich zum Beispiel nicht vorstellen, Schulzeit anders als im 45-Minutentakt zu organisieren, den wir laut Burow übrigens einem Erlass des preußischen Kultusministeriums von 1911 zu verdanken haben. Transformatives Denken findet heraus, wie sich Lernen sinnvoller organisieren lässt als man in Preußen jemals zu träumen gewagt hätte.

Die von Robert Jungk entwickelte Zukunftswerkstatt ist eine gute Möglichkeit, alle Betroffenen demokratisch an Schulentwicklung zu beteiligen. Und so ist es kein Zufall, dass Burow nicht der einzige ist, der damit arbeitet. Im Workshop von Georg Coenen von der Pädagogischen Beratungsstelle „Grün macht Schule“ erfahren die Teilnehmer, wie man mit Schülern, Hausmeistern und Verwaltungsbeamten gemeinsam Außengelände baut. Coenen ist professioneller Schulhofaufreißer. Als er noch Lehrer war, brachte ihm seine Leidenschaft eine Disziplinarstrafe ein. Dabei wollte er mit seinen Schülern eigentlich nur ein kleines Stückchen Asphalt bepflanzen. Aber dann konnten sie einfach nicht mehr damit aufhören, den Schulhof zu entsiegeln. „Wir hätten uns das nicht getraut, wenn die Schüler nicht so begeistert dabei gewesen wären“, begründet Coenen die Aktion, die andere als „Sachbeschädigung“ bezeichneten. Längst rehabilitiert, führt er heute Besucher aus Finnland und Schweden über Berliner Schulhöfe. Seine Fotos zeigen Außenanlagen, die mit Mitteln des IZBB-Programms umgestaltet wurden. Man sieht Kinder in Wasserläufen spielen, auf einer Wiese lesen, im Herbstlaub kuscheln. Man glaubt Botanische Gärten, Abenteuerspielplätze und Skulpturenparks vor sich zu sehen. Ob die Kleinen matschen, die Jungen bolzen oder die Mädchen klettern möchten – jedes Kind kann seinen Bedürfnissen nachgehen. Davon profitieren auch die Erwachsenen. Die Schüler sind entspannter im Unterricht und der Vandalismus geht spürbar zurück. 

„Wir bekommen keinen Wasserlauf auf unserem Schulhof genehmigt“, klagt eine Teilnehmerin aus Thüringen. Coenen kennt die Vorbehalte. Eine Frau im Publikum ebenfalls. „Die Bedenkenträger sitzen immer in der Verwaltung“, schmunzelt die Leiterin eines Schulverwaltungsamtes aus dem Saarland. Sie ist sehr angetan von der konsequenten Beteiligung von Schülern und Eltern, gleichzeitig sieht sie sich Gesetzen verpflichtet, die sie nicht gemacht hat - eine Zwickmühle. Auch Lehrern fällt es nicht immer leicht, die Wünsche von Kindern und Jugendlichen umzusetzen. „Nur wer Partizipation selbst erlebt hat, kann andere beteiligen“, weiß Coenen, der es fertig bringt, Ketten sägende Schulleiter unter Anleitung eines sibirischen Künstlers erfahren zu lassen, wie es ist, wenn man etwas gemeinsam vollbringt.

Auch mal an die Kinder denken



Bei den vielen wichtigen Dingen, die man in der Ganztagsschule erleben kann, vergessen Erwachsene manchmal, dass nicht alle gern den ganzen Tag in der Schule sind. Kurz vor der großen Abschlussveranstaltung tritt auf einmal ein Schüler ans Mikrofon. Er findet es nicht gut, wenn Erwachsene Sportvereine an Schulen holen. „Ich möchte meine Freizeit nicht auch noch in der Schule verbringen“, erklärt er und beschwört die Teilnehmer: „Denkt doch einfach mal an die Kinder. Denkt mal daran, wie ihr früher ward.“

Mit Kritik halten auch die „Rasenden Schülerreporter“ nicht hinter dem Berg. Sie sammeln zwei Tage lang ihre persönlichen Eindrücke und lassen sie über einen Newsticker laufen. Zum Abschluss des Kongresses setzen sie sich mit Benedikt Sturzenhecker, Professor an der Uni Hamburg, und weiteren erwachsenen Teilnehmern zusammen, um ihre Erfahrungen zu diskutieren (öffnen). Ähnlich zusammengesetzt wie die Teilnehmerschaft ergeben sie eine sprechende repräsentative Stichprobe.



„Wir Schüler wurden hier überraschend ernst genommen. Das ist gut, aber es ist auch schlecht, denn meine Überraschung zeigt, dass es nicht selbstverständlich ist“, sagt ein Schüler. „Der Kongress hat Dinge benannt, die den Leuten auf den Nägeln brennen. Demokratie hat hier stattgefunden“, wird gelobt. Punktabzug gibt es dafür, dass die entscheidenden Inhalte dann häufig doch nicht von Schülern bestimmt werden: Mitmachen sei nicht dasselbe wie Mitentscheiden, vielfach wurden Projekte vorgestellt, in denen es nur um das muntere Mittun ging, beklagt eine Schülerin. Ihr Appell „Schluss mit der Scheinpartizipation. Ja zu einer demokratischen Schule“, findet viel Zuspruch.

Und dann heißt es: Film ab! Im Themenatelier „Kulturelle Bildung an Ganztagsschulen“ haben Kinder und Jugendliche von Dresden bis Wuppertal an insgesamt 15 Schulen Filme gedreht. Der zehnminütige Zusammenschnitt zeigt die Vielfalt: Sie rappen und singen, tanzen und trommeln und haben sich so praktisch ganz nebenbei mit dem nicht ganz einfachen Begriff der Inklusion auseinandergesetzt. Das Themenatelier läuft noch bis Ende des nächsten Jahres und richtet sich vor allem an Schulen in Kommunen mit einem hohen Migrationsanteil.

Fazit und Ausblick



Mehr als zufrieden ist Kornelia Haugg, Abteilungsleiterin im BMBF. „Es hat gut funktioniert, Schülerinnen und Schüler verstärkt einzubeziehen“, so Haugg. Heike Kahl, Geschäftsführerin der DKJS, lobt die Teilnehmer für ihre Bereitschaft, aus der Kuschelzone der Mittelmäßigkeit herauszukommen und sich produktiv verunsichern zu lassen, da man nur so vermeintlich bekannte Dinge nochmals neu hinterfrage und ihnen eine höhere Aufmerksamkeit schenke. Aufmerksamkeit lenkt sie auch auf das kommende Jahresthema 2009: Dann wird der Fokus auf Qualität liegen, und zwar sowohl auf Qualitätsmanagement auf Steuerungsebene als auch auf Qualitätsentwicklung in Schulen.  Und die Schulen können sich wieder ab November im Wettbewerb „Zeigt her eure Schule“ einbringen. Darüber, wie sie ihre „Qualität im Alltag“ managen, möchte die DKJS soviel wie möglich erfahren, um dieses Wissen an andere Schulen weiter geben zu können.



Im Kopf bleibt, was eine Lehrerin zum Abschluss sagt: „Unterrichten ist so viel leichter, wenn man es gemeinsam hin bekommt mit den Schülern“. Doch das letzte Wort soll eine Schülerin haben: „Wenn man etwas mit gestalten darf, geht man mit viel mehr Freude in die Schule“. Es ist vielleicht die wichtigste Botschaft, die von diesem Kongress ausgeht. Wenn alle mitmachen – die selbstbewussten Schülerinnen und der freche Bildungsredakteur, die leidenschaftliche Geschäftsführerin und der Schüler mit dem Recht auf Privatleben, der Glücksmacher und die Eltern-Beauftragte, die Bundesbildungsministerin und nicht zuletzt der Humor – erst dann macht Ganztagsschule Freude und kann ihr Potenzial voll entfalten.

 

Datum: 16.09.2008
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