Ansprache von Andreas Schleicher auf dem ersten Ganztagsschulkongress in Berlin 2005
Meine Damen und Herren, über die Einladung zu diesem Kongress habe ich mich ganz besonders gefreut, denn die Initiative zu den Ganztagsschulen ist in Deutschland zum Symbol geworden. Zum Symbol dafür, dass sich in der deutschen Bildungspolitik und Bildungspraxis etwas bewegt.
Dass sich noch sehr viel mehr bewegen muss, und dass Ganztagsschulen eine gute Grundlage aber keine Garantie für Bildungserfolg bieten, dass bleibt uns dabei bewusst. Denn noch haben wir die Ergebnisse der PISA-2000 Studie nicht vergessen. Deutschland gehörte zu den OECD Staaten, in denen die Leistungen 15-jähriger Schüler in wesentlichen Bereichen schulischer Arbeit unterdurchschnittlich waren, in denen effektive Lernstrategien vergleichsweise schlecht verankert waren, und in denen es vielfach an anschlussfähigem Wissen für weiterführende Lernprozesse mangelte.
Ebenso beunruhigend war, dass es dem deutschen Schulsystem offensichtlich nur unzureichend gelingt, ungünstige familiäre und soziale Voraussetzungen auszugleichen und, auf der anderen Seite des Leistungsspektrums, Talente zu fördern. Ich rede hier bewusst von der Vergangenheit, weil die Kultusminister uns in den letzten Tagen, natürlich zu Recht, darauf hingewiesen haben, dass Zahlen von gestern, aufgrund der rasanten Reformdynamik in Deutschland, für heute nur sehr begrenzt aussagekräftig sind.
Es gibt bereits viele Schulen mit ausgezeichneten Leistungen
Das alles wird sich in zukünftigen PISA-Studien zeigen. Aber eines ist schon heute klar: Bei den mangelhaften Durchschnittsleistungen des deutschen Bildungssystems dürfen wir nicht vergessen, dass es viele Schulen gibt, die ausgezeichnete Leistungen erbringen, die richtungweisend für zukünftige Entwicklungen im Bildungssystem insgesamt sein können.
In der Durchschnittsschule, für die die PISA-2000 Resultate standen, erfolgte der Zugang zum Lernen allein durch die Lehrer, die Wissen durch den für Deutschland so typischen fragend-entwickelnden Unterricht vermitteln. Vielfach wird dies auch Osterhasen Pädagogik genannt, d.h. der Lehrer versteckt die richtigen Antworten, und wenn die Schüler sie gefunden haben sind alle zufrieden. In den erfolgreichen Schulen dagegen arbeiten Lehrer als Experten, die Schüler begleiten und dabei unterstützen, durch eigenständiges Denken und Handeln selbstständig und kooperativ zu lernen.
Im deutschen Durchschnittssystem lernt der Schüler meist für sich ...
... im Rahmen vorgegebener inhaltsbezogener Lehrpläne. In den erfolgreichen Schulen dagegen individualisieren Lehrer Lernpfade und befähigen Schüler, gemeinsam und voneinander zu lernen. In der Durchschnittsschule, für die die PISA-2000 Resultate standen, benutzten wir Klassenarbeiten und Zensuren zur Kontrolle, etwa um Leistungen zu zertifizieren und den Zugang zu weiterer Bildung zu rationieren. In erfolgreichen Schulen dagegen arbeiten wir mit Assessments und motivierenden Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen, mit denen Lernpfade und Lernstrategien entwickelt und begleitet werden können.
Im deutschen Durchschnittssystem versuchen wir gute und schlechte Lerner frühzeitig zu selektieren. Die erfolgreichen Schulen dagegen bieten jungen Menschen ein offenes und integriertes Lernangebot an, das unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten gerecht wird. Und schließlich sind Lehrer und Schulen in dem durch die PISA Resultate beschriebenen Bildungssystem oft nur die letzte ausführende Instanz eines komplexen Verwaltungsapparates. Erfolgreiche Schulen dagegen zeichnen sich dadurch aus, dass sie selber Verantwortung übernehmen für die Gestaltung der Lernumgebung und für die Bildungsergebnisse.
Man muss nicht nach Finnland fahren um erfolgreiche Schulen zu sehen, es gibt sie auch mitten in Deutschland. Was Länder wie Finnland jedoch von Deutschland unterscheidet, ist die systemische Verankerung von Erfolg im Bildungssystem. Ich habe mir vorgenommen heute nicht über PISA zu sprechen, da die Daten veraltet sind. Aber auf eine Zahl will ich in diesem Zusammenhang hinweisen. In Ländern wir Finnland liegen nur rund ein Zehntel der Leistungsvariation der 15-Jährigen Schülerschaft zwischen den Schulen. Es gelingt dort fast allen Schulen gute Leistungen zu erbringen, Eltern brauchen sich keine Gedanken zu machen auf welche Schule sie ihr Kind schicken, das Bildungssystem bietet die Gewähr dafür, dass das Potenzial, das in den Kindern, ungeachtet ihres sozialen Hintergrundes, liegt, ausgeschöpft wird. In Deutschland liegen mehr als zwei Drittel Leistungsunterschiede zwischen den Schulen, ein Großteil davon durch die verschiedenen Schulformen zementiert.
Natürlich ist seit PISA viel passiert
Und Ganztagsschulen, so wie sie in den meisten erfolgreichen Bildungsnationen seit langem selbstverständlich sind, bieten wichtige Voraussetzungen für weitere Verbesserungen, in dem sie Raum schaffen, um sowohl sozialen Benachteiligungen besser entgegenzuwirken, als auch Talente besser zu entdecken und zu fördern.
Und doch dürfen wir über all die gegenwärtigen wichtigen Reformschritte hinaus die großen Linien für zukünftige Reformen nicht verlieren. Der Blick in die Zukunft muss den großen Veränderungen Rechnung tragen, die unsere Gesellschaft in den letzten Jahren geprägt haben.
Schauen Sie zurück auf die letzten zehn, zwanzig Jahre. Denken Sie an die Auswirkungen des technologischen, sozialen und kulturellen Wandels, der wirtschaftlichen Globalisierung oder an die zunehmende Vernetzung gesellschaftlicher Strukturen.
Treibende Kräfte dieser Veränderungen waren Wissen, Innovation, Flexibilität sowie Offenheit und Fähigkeit der Menschen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten zu vernetzen. Inwieweit haben wir die in diesen Kräften liegenden Chancen ausreichend für Bildungsreformen genutzt?
Wissen und Kompetenzen?
Natürlich leisten unsere Schulen bei der Vermittlung von Wissen gute Arbeit – von den von PISA aufgezeigten Defiziten mal abgesehen. Darauf will ich aber gar nicht hinaus. Die Frage die ich stellen möchte ist: Wie weit setzen wir Wissen und Kompetenzen selbst als primäre Ressource, als Motor für Entwicklung und Innovation im Bildungssystem ein, so wie das in vielen anderen Bereichen unserer Gesellschaft und der Wirtschaft bereits der Fall ist? D.h. die Frage ist, wie wirkungsvoll wir Curricula, Standards, Rückmelde- und Unterstützungssysteme verknüpfen, wie weit die Lehrenden wirklich eingebunden sind in den Prozess der Entwicklung und informiert über die Wirkungen ihres Handelns, inwieweit wir Bildung von einer Angelegenheit der Verwaltung zu einer Sache der Handelnden machen, Wege ebnen für Lernende, Lehrer und Bildungsinstitutionen, zu einer echten Teilhabe an gesellschaftlichen Gestaltungsaufgaben in einer wissensbasierten Gesellschaft.
Innovation?
Wie eingangs gesagt, es gibt mitten in der deutschen Bildungslandschaft viele ausgezeichnete Beispiele für Innovation und Gelingen, der eindrucksvolle Film von Reinhard Kahl belegt dies. Aber ist dies, sind erfolgreiche Schulen, das Resultat des unermüdlichen Einsatzes Einzelner innerhalb ihrer eigenen Schulen – sozusagen trotz des Bildungssystems – oder wirklich Ergebnis systemischer Verankerung von Innovation im Bildungssystem?
Flexibilität und Offenheit?
Von offenen Bildungswegen wird viel geredet, aber die PISA-Ergebnisse zeigen tiefe Verwerfungen bei der Verteilung von Bildungschancen auf. Zu viel befassen wir uns damit, Schüler möglichst früh auf fest gefügte Bildungsstrukturen zu verteilen und zu wenig damit, ihnen durch individuelle Förderung Perspektiven für die Gestaltung ihrer eigenen Zukunft zu eröffnen.
Vernetzung?
Auf den ersten Blick ist dies sicher eine Stärke des deutschen Bildungssystems, etwa wenn Sie an die exemplarische Zusammenarbeit von Bildung und Handwerk im Bereich der dualen Berufsausbildung denken. Aber auch hier verschieben sich Anforderungen an moderne Gesellschaften. Vernetzung bedeutet heute mehr als ein früher und reibungsloser Übergang ins Berufsleben. Maßstab für den Erfolg moderner Bildungssysteme muss heute sein, inwieweit sie Grundlagen für lebensbegleitendes Lernen schaffen, welches seine Wirksamkeit dann in allen Bereichen einer demokratischen Gesellschaft entfalten kann.
Es bleibt also noch einiges zu tun. Und bei der Gestaltung zukünftiger Reformen müssen wir den Blick, über die vielen zu lösenden Alltagsprobleme hinweg, fünfzehn, zwanzig Jahre nach vorne richten.
Was wissen wir über die Zukunft?
Wenig, aber einige Rahmenbedingungen sind absehbar. Denken Sie an demographische Entwicklungen. Seit 300 Jahren wächst die Lebenserwartung beständig. Neu an der Entwicklung aber ist, dass der Anteil der unter 35ig- Jährigen etwa doppelt so schnell schrumpfen wird wie der Anteil älterer Menschen wächst. Um 2030 wird fast die Hälfte der deutschen Bevölkerung über 65 Jahre sein und die Zahl der Menschen im erwerbstypischen Alter in Deutschland wird von 40 Millionen auf 30 Millionen sinken. Wir können es uns nicht mehr leisten, das Potenzial junger Menschen ungenutzt zu lassen.
Als Folge prognostiziert das DIW, dass Deutschland um das Jahr 2020 jährlich eine Million Migranten integrieren müsste allein um die Menge der erwerbstätigen Bevölkerung zu sichern. Denken Sie vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen daran, wie schwer es dem deutschen Bildungssystem heute fällt, Schüler mit Migrationshintergrund wirkungsvoll zu fördern. Die Situation ist natürlich in vielen OECD-Staaten ähnlich, aber Staaten wie die USA, Australien und Kanada besitzen heute schon ausreichend Erfahrung und Akzeptanz, um mit diesen Herausforderungen umzugehen.
Weiterhin können wir davon ausgehen, dass sich die industrielle Produktion in den OECD-Staaten bis zum Jahr 2020 noch einmal verdoppeln wird. Entscheidender aber ist, dass der Anteil der in der industriellen Produktion Beschäftigten bis dahin auf rund ein Zehntel schrumpfen wird. Den Rest werden "Wissensarbeiter" bilden, deren "Kapital", ihr "Wissen", schnell veraltet. Unsere Bildungssysteme müssen diese Menschen daher nicht nur mit solidem Fachwissen ausstatten, sondern in erster Linie mit der Fähigkeit und Motivation zu lebensbegleitendem Lernen.
Bildung in diesem Sinne ist zum Schlüssel geworden, aber nicht nur für den Erfolg des Einzelnen und für Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit der Nationen, sondern auch für gesellschaftlichen Fortschritt, sozialen Zusammenhalt und für die Festigung demokratischer Grundwerte.
Zentraler Punkt ist der schnelle Wandel von Wissen
In meiner Heimatstadt zeigt das Museum für Hamburgische Geschichte eine eindrucksvolle Sammlung von Werkzeugen, mit denen Handwerker vor hunderten von Jahren ihre Arbeit verrichteten. Und jeder heutige Handwerker erkennt sofort wozu diese Instrumente gebraucht wurden, denn sie ähneln denen, die man heute gebraucht. Viele der grundlegenden Fähigkeiten im Handwerk haben sich über lange Zeiträume nur wenig verändert. Als Konsequenz konnte man in Bildung und Ausbildung davon ausgehen, dass das was man in der Schule lernt, für ein ganzes Leben ausreicht.
Genau das aber gilt heute nicht mehr. Fachwissen verliert seinen Wert relativ schnell. Oft sehen wir in der daraus folgenden Notwendigkeit für Wandel eine Bedrohung. Aber dies eröffnet uns auch ungeahnte Chancen: Damit wird die Wissensgesellschaft zur ersten Gesellschaft, in der unbegrenzte Aufwärtsmobilität möglich wird. Denn im Gegensatz zu traditionellen Produktionsmitteln kann Wissen nicht vererbt oder vermacht werden, sondern muss von jedem neu erworben werden. Wissen muss weiterhin so transformiert werden, dass es lehr- und lernbar ist. Damit wird Wissen „öffentlich“, und universell verfügbar. Wissen kann von jedem und überall erworben werden.
Schauen Sie zurück. Bis 1850 gab es fast überhaupt keine soziale Mobilität in der Gesellschaft. Das indische Kastensystem ist vielleicht der Extremfall, aber auch in Europa galt, dass der Sohn eines Bauers wieder Bauer wurde und die Tochter einen Bauern heiratete. Mobilität war, sofern es sie gab, oft nach unten gerichtet, durch Krieg, persönliches Unglück, Alkohol oder Glücksspiel.
Selbst in Amerika, dem „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“, gab es weniger soziale Mobilität als man glaubt. Die große Mehrheit von Managern oder Professionals in der ersten Hälfte des 20sten Jahrhunderts waren immer noch Kinder von Managern und Professionals. Was Amerika von Europa unterschied, war nicht das Ausmaß an Mobilität, sondern die Art und Weise in der Mobilität von der Gesellschaft anerkannt und gefördert wurde.
Aber die Wissensgesellschaft bringt all dies einen entscheidenden Schritt weiter, sie bietet uns die Chance zu unbegrenzter sozialer Mobilität. Aber ergreifen können wir diese Chance nur, wenn wir den Menschen die dazu notwendigen Bildungschancen anbieten und lebensbegleitendes Lernen wirklich zur Realität werden lassen, für alle. Das bedeutet, dass Menschen motiviert sind, ständig dazuzulernen; mit den erforderlichen kognitiven und sozialen Fähigkeiten ausgestattet sind, um eigenverantwortlich zu lernen; Zugang zu geeigneten Bildungsangeboten haben und schließlich entsprechende kulturelle Anreize erhalten um zu lernen.
Die Kehrseite ist, dass unzureichende Bildungsinvestitionen sinkende Lebensqualität bedeuten, ...
... sowohl für den Einzelnen als auch für Nationen, die am Übergang in die Wissensgesellschaft scheitern. Mangelnde Bildung wird zudem die Möglichkeiten junger Menschen, sich in unserer Gesellschaft wirklich zu engagieren, zunehmend begrenzen.
Natürlich kann niemand heute voraussagen, wie die Zukunft von Gesellschaft und Bildung aussehen wird. Aber es liegt in unserer Verantwortung – und unseren Möglichkeiten – heute darüber zu diskutieren wie wir uns die Zukunft von Gesellschaft und Bildung wünschen und wie wir sie gestalten wollen. Das ist ja auch ein Ziel dieser Veranstaltung sowie das zentrale Anliegen von PISA.
Bildungssysteme sind träge Tanker, sie bewegen sich langsam. Sie brauchen viele Jahre, um Grundlagen für die Zukunft junger Menschen zu legen. Ihre Richtung ändern wir nicht, indem der Kapitän - oder man muss hier zutreffender sagen, die 16 Kapitäne - mit kurzfristig angelegten bildungspolitischen Maßnahmen an Deck, von der einen auf die andere Seite des Tankers laufen. Um das Schiff sicher zu manövrieren, brauchen wir vor allem langfristige strategische Bildungsziele. Nur wer solche strategischen Bildungsziele hat, kann sinnvoll darüber entscheiden, was kurzfristig, mittelfristig und langfristig wie zu erreichen ist.
Die Beantwortung der Frage nach sinnvollen Bildungszielen darf sich dabei nicht auf Bildungsinhalte und Curricula beschränken, diese sind in Deutschland ja sehr detailliert formuliert. Sie beginnt mit einem Diskurs über die für die Zukunft entscheidenden Kompetenzen, deren Definition, Operationalisierung und schließlich deren systematischer Bewertung. Einen solchen gesellschaftlichen Diskurs, unter Beteiligung aller gesellschaftlichen Träger, gibt es heute in vielen der erfolgreichen OECD-Staaten.
Es reicht auch nicht zu glauben, nur weil wir gute Intentionen haben werden die Resultate schon stimmen. Wir müssen mehr Gewicht auf die Bewertung der Ergebnisse pädagogischen Handelns legen. Dazu sind universelle und anspruchsvolle Bildungsstandards notwendig, die Maßstäbe für den Erfolg von Bildung schaffen, die Schülern und Eltern helfen zu verstehen, auf welche Fähigkeiten es ankommt und wie Jahrgangsstufen aufeinander aufbauen, und die Lehrern ein Referenzsystem für professionelles Handeln bieten, mit denen Sie Heterogenität von Lernprozessen und Lernergebnissen verstehen und Lernpfade individuell begleiten können. Finnland, England oder Schweden bieten hier Lösungsansätze an denen wir uns orientieren könnten.
Wer strategische Bildungsziele hat, und sie den Entscheidungsträgern und Handelnden - d.h. Schulen, Lehrern, Schülern und Eltern - auch vermitteln kann, der kann auch Leistungsbereitschaft einfordern. Und PISA zeigt klar, dass Schüler und Schulen, die in einem Umfeld positiver Leistungserwartung arbeiten und deren Schulklima von Lernfreude und Anstrengungsbereitschaft gekennzeichnet ist, bessere Leistungen erreichen. Viele Staaten, die beim PISA Vergleich erfolgreich abschnitten, haben deshalb schon vor vielen Jahren damit begonnen, den Schwerpunkt ihrer Bildungspolitik und Bildungspraxis von einer zentralen Input-Steuerung zu einer Orientierung an den Lernergebnissen zu verlagern und bieten den Schulen wirksame Unterstützungsmaßnahmen an, um Bildungsziele zu erreichen.
Wenn wir von unseren Schulen mehr Ergebnisorientierung erwarten, müssen diese umgekehrt aber auch die notwendigen Freiräume erhalten um ihre Lernumgebung sowie das Bildungsangebot zu gestalten und die ihnen zugewiesenen Ressourcen zu verwalten. Wie eingangs gesagt, sind Lehrer und Schulen in Deutschland oft nur die letzte ausführende Instanz eines komplexen Verwaltungsapparates. Die Relevanz und Effizienz dieses Verwaltungsapparates, ob Kommunen, Länder oder Bund, muss sich aber letztlich daran messen, wie gut die Schule, als selbstständige und pädagogisch verantwortliche Einheit, unterstützt wird. Dazu brauchen Lehrer und Schulen Vergleichsdaten und wirkungsvolle Unterstützungsinstrumente. Deshalb müssen wir von Abgrenzung von Verantwortung unter den Verwaltungsebenen zu einer konstruktiven Zusammenarbeit aller Beteiligten kommen.
Mit Verschiedenheit umgehen
In vielen der im PISA-Vergleich erfolgreichen Staaten haben Schulen aber nicht nur größere Freiräume, sondern sind auch stärker für ihre Leistungsergebnisse verantwortlich. Für den Schüler in Deutschland, der Bildungsziele verfehlt, sind die Konsequenzen meist klar – er bleibt sitzen. Und der Anteil solcher Schüler ist in Deutschland überdurchschnittlich hoch. Dagegen gibt es nichts wie eine übergreifende „Produkthaftung“ der Schule oder des Bildungssystems für seine Leistungen insgesamt. Dass dies so nicht sein muss, zeigen die leistungsstärksten PISA Staaten, in denen es Aufgabe der Schule ist, konstruktiv und individuell mit Leistungsunterschieden umzugehen, d.h. sowohl Schwächen und Benachteiligungen auszugleichen, als auch Talente zu finden und zu fördern - und zwar, ohne dass die Möglichkeit bestünde die Verantwortung allein auf die Lernenden zu schieben, d.h. etwa Schüler den Jahrgang wiederholen zu lassen oder sie in Bildungsgänge bzw. Schulformen mit geringeren Leistungsanforderungen zu transferieren. Klar ist, dass jede institutionelle Barriere, die wir aufbauen, Lernen hindert und Chancenungleichheit verstärkt. Die Zukunft braucht ein offenes und integriertes Lernangebot, das unterschiedlichen Interessen und Fähigkeiten gerecht wird. Ganztagsschulen bieten hierfür eine gute Grundlage. Und viel wichtiger noch als institutionelle Barrieren sind die Barrieren, die durch das bestehende Schulsystem in unseren Köpfen entstanden sind. Es kann nicht sein, dass ein Lehrer sagt, ich mache den richtigen Unterricht aber habe leider die falschen Schüler. Wir müssen von unseren Lehrern und Schulen verlangen dass sie mit Verschiedenheit konstruktiv umgehen.
Auch im tertiären Bildungsbereich sind viele Staaten bei der Integration von Bildungswegen und bei der Flexibilisierung von Qualifikationssystemen weiter fortgeschritten. Vielfach kann man von einem Paradigmenwechsel sprechen, von der traditionellen Ausbildung, die darauf abzielt den gegenwärtigen Qualifikationsbedarf des Arbeitsmarktes abzudecken, hin zur Investition in die weiterführende Bildung junger Menschen um diese zu befähigen den wirtschaftlichen und sozialen Wandel der Gesellschaft aktiv zu gestalten. Im Ergebnis wurde die Kluft zwischen langer akademischer Ausbildung auf der einen, und beruflicher Ausbildung auf der anderen Seite besser überwunden. Der Studierende kann seinen Bildungsweg in vielen Staaten heute flexibler nach seinen Interessen und den sich wandelnden Anforderungen des Arbeitsmarktes gestalten. Ich glaube, dass die Zukunft darin liegen wird, dass wir weniger Gewicht auf bestehende Institutionen legen werden, sondern Rahmenkonzepte für Qualifikationen und Abschlüsse aufbauen, die sich, unabhängig von den Bildungsanbietern, sowohl für die Bewertung, als auch für die Anerkennung von Bildungsabschlüssen und Ergebnissen – sei es in formalen Institutionen aber auch bei der Weiterbildung am Ausbildungsplatz – nutzen lassen. Solche „qualification frameworks“ fördern die Kontinuität des Lernens und erlauben es dem Bildungsteilnehmer, verschiedene Bildungsangebote selektiv wahrzunehmen. Zudem markieren sie Bildungsergebnisse, die für den Arbeitsplatz und das Leben besonders relevant sind.
Klassenarbeiten, Leistungsvergleiche und Zensuren haben in Deutschland eine lange Tradition, etwa um Leistungen zu zertifizieren oder den Zugang zu weiterer Bildung zu rationieren – wobei man sicherlich hinzufügen muss, dass die in Frankreich verwandten Methoden hier wesentlich weiter entwickelt sind. In beiden Ländern aber braucht die Zukunft mehr, nämlich moderne Assessments und motivierende Leistungsrückmeldungen, die Vertrauen in Lernergebnisse schaffen, mit denen Lernpfade und Lernstrategien entwickelt und begleitet werden können.
Leistung fördern - Chancengeichheit sichern!
Klar ist, dass Leistung zu fördern und Chancengleichheit sicherzustellen große Herausforderungen für Bildungspolitik und Bildungspraxis sind, nicht nur, aber wie die Pisa- Studie zeigt, gerade auch für Deutschland. Ein Staat mit der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung Deutschlands gehört in die Spitzengruppe der Bildungsnationen und darf sich nicht mit dem OECD-Mittelmaß – geschweige denn mit einer Position darunter – zufrieden geben.
Viele gute Schulen in Deutschland, insbesondere aber die Bildungssysteme in Ländern wie Finnland, Japan, Kanada und Korea, die eine hohe Qualität von Bildungsleistungen und eine ausgewogene Verteilung von Bildungschancen erreicht haben, zeigen uns, dass die Herausforderungen gemeistert werden können. Sie können heute die Erträge von früheren Bildungsinvestitionen und -reformen einfahren. Ihre Schulen arbeiten ergebnisorientiert und haben ein deutlich größeres Maß an Selbstständigkeit und Verantwortung als Schulen in Deutschland. Sie sind in der Lage, Schüler zu besserem Lernen, Lehrer zu besserem Unterrichten und Schulen zu mehr Effizienz anzuregen. Und sie bieten außerdem die richtige Kombination aus qualifiziertem Lehrpersonal, individuellen Lernangeboten sowie innovativer Ausstattung.
Wir müssen umdenken!
Natürlich hat gute Bildung ihren Preis. Aber auch hier müssen wir umdenken. Unsere Analysen weisen nicht nur auf deutliche Zusammenhänge zwischen Bildung, Arbeitsmarktchancen und Einkommen hin, sondern auch darauf, dass Zuwächse beim Bildungsstand zu den wichtigsten Einflussgrößen des Wirtschaftswachstums gehören. Die für Bildung eingesetzten Mittel sind damit entscheidende Investitionen in die Zukunft, die in unserer Haushaltsrechnung nicht weiterhin als Konsum- und Kostenfaktor, sondern als Investitionen verbucht werden sollten. Natürlich freuen wir uns alle, wenn bei einer Versteigerung von UMTS Lizenzen auch Geld für Bildung, und insbesondere die Entwicklung von Ganztagsschulen abfällt, aber die Förderung von Ganztagsschulen sollte eigentlich zum Kerngeschäft gehören.
Ist eine zukunftsorientierte Bildung für alle angesichts der enttäuschenden PISA Ergebnisse nichts als eine abstrakte unrealistische Vision? Nein, Deutschland war traditionell ein starkes Bildungsland und hat alle Chancen wieder einen Spitzenplatz einzunehmen.
Es gilt aus den Erfahrungen guter Schulen und guter Bildungssysteme zu lernen. PISA zeigt uns, dass andere Staaten auf diesem Weg schon weiter fortgeschritten sind und an diesen Staaten, nicht am OECD-Mittelmaß, müssen wir uns messen. Von diesen Staaten können wir lernen. Klar ist, dass die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft ganz entscheidend von dem Erfolg dieser Bemühungen abhängen wird.