Grußwort Kongress 2004

Edelgard Bulmahn, Bundesministerin für Bildung und Forschung

Sehr geehrte Herren und Damen,

ich begrüße Sie ganz herzlich auf dem Ganztagsschulkongress des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und freue mich, dass Sie so zahlreich aus dem ganzen Bundesgebiet heute nach Berlin gekommen sind. Vor etwa einem Jahr haben wir hier in Berlin mit der Startkonferenz zum Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ begonnen, gemeinsam mit allen Beteiligten über die inhaltliche Gestaltung von Ganztagsschulen in Deutschland zu sprechen. Im Laufe dieses einen Jahres ist viel geschehen. Viele Schulen haben sich seitdem auf den Weg zur Ganztagsschule gemacht und sind vor allem jetzt zum neuen Schuljahr Ganztagsschule geworden. Einige dieser neuen Ganztagsschulen habe ich in den letzten Monaten besucht und mir ein Bild von der Arbeit vor Ort machen können. Im Juni habe ich in Duisburg die bundesweit tausendste mit Mitteln des Bundesprogramms geförderte Ganztagsschule besucht.

Eines kann ich für alle Schulen sagen, die ich besucht habe: Ich war begeistert von dem Engagement der Lehrerinnen und Lehrer, der Schülerinnen und Schüler, der Eltern, der Erzieherinnen, der Mitarbeiter aus der Kinder- und Jugendhilfe und der Mitarbeiter aus vielen anderen Organisationen und Einrichtungen in den Städten und Gemeinden. Ich habe spüren können, dass sich eine neue Kultur der Zusammenarbeit entwickelt. Genau diese neue Kultur der Zusammenarbeit, davon bin ich überzeugt, ist der Garant für den Erfolg der schulischen Arbeit. Hierzu möchte ich Sie alle schon jetzt beglückwünschen und Ihnen Mut machen für Ihre weitere Arbeit.

Mit dem heutigen Kongress möchten wir diese vielen guten Beispiele sichtbar machen und wir möchten vor allen Dingen, dass viele Menschen in unserem Land davon profitieren können; dass dieses Wissen, diese Erfahrung und diese Kenntnis, die Sie einbringen, auch verfügbar wird für viele andere.

Alle Beteiligten sollen hier die Gelegenheit erhalten, Kontakte zueinander zu knüpfen und neue Methoden und Ideen mit nach Hause zu bringen. „Ideen für mehr! Ganztägig lernen.“ heißt deshalb auch unser Motto auf diesem Kongress. Wir möchten mit Ihnen, die Sie als Schulleitung, Lehrerin oder Lehrer in Zusammenarbeit mit Schülerinnen und Schülern, Eltern und Partnern der Schule das neue Profil der Ganztagsschule vor Ort gestalten, darüber reden, wie wir Sie am besten unterstützen können. Ich bin sehr froh, dass wir die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung dabei als Partnerin haben.

Bund und Länder wollen gemeinsam die Chancen nutzen, die dieses Programm bietet. Und
dafür brauchen wir eben viele, die mitmachen und die unterstützen.

Wir wissen, dass wir heute vor der Herausforderung stehen, dass unsere Welt und damit die Anforderungen, die an Menschen gestellt werden, sich sehr schnell ändern. Vor etwa 15 Jahren beispielsweise wussten viele von uns wahrscheinlich mit dem Begriff „Internet“ noch gar nicht so viel anzufangen.

Heute ist das eine Selbstverständlichkeit. Wir wissen, dass wir vor der Frage stehen, wie wir auch noch in 10 oder 20 Jahren Beschäftigung und Wohlstand sichern können in unserem Land. Wir wissen, dass wir vor dem Hintergrund des veränderten Altersaufbaus unserer Gesellschaft alles dafür tun müssen, den Menschen die Chance zu bieten, sich zu bilden und zu entwickeln. Das alles stellt uns gerade in der Bildungspolitik vor eine sehr große Aufgabe. Lassen Sie mich dazu drei grundsätzliche Aussagen formulieren, über die es in unserem Land keinen Dissens mehr geben darf:

  • Bildung entscheidet in zunehmendem Maße über individuelle Lebenschancen.
    Mit Bildung erschließen wir Wissen. Mit Bildung gewinnen wir Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt. Bildung ist für jeden Einzelnen der Schlüssel zu Beschäftigung und beruflicher Sicherheit – und erst Bildung ermöglicht echte Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben.
  • Innovation und Fortschritt sind nur mit gut ausgebildeten Menschen möglich – ihre Kompetenz, ihr Wissen und ihr Einsatz sind unser wichtigstes Kapital. Der Wettbewerb um die Arbeitsplätze von morgen, um Wohlstand und soziale Sicherheit in unserem Land ist im Kern deshalb auch ein internationaler Wettbewerb um die Qualität von Bildungssystemen geworden. Das ist der eigentliche Wechsel, den wir feststellen. Es geht im Kern darum, dass wir durch Bildung die Chancen, die wir für die Zukunft haben, auch tatsächlich nutzen.
  • Wir müssen daher unser Bildungsniveau insgesamt erhöhen – in der Breite wie auch in der Spitze und in allen Bildungsbereichen, angefangen bei der frühkindlichen Erziehung und Bildung über die schulische Bildung, über die berufliche Ausbildung, über die Hochschulbildung wie auch in der Weiter- und Fortbildung. Der frühkindlichen und schulischen Bildung kommt dabei eine ganz besondere Rolle zu, denn hier werden die Weichen für später gestellt.

Wie groß der Rückstand gerade in diesen Bildungsbereichen ist, das haben wir spätestens nach der Veröffentlichung der PISA-Studie erfahren. Ich will aber ausdrücklich sagen, dass die internationalen Vergleichsstudien auch eine Chance darstellen. Die Chance nämlich, diese Aufgabe an vielen Orten mit Engagement aufzugreifen und zu erfüllen. Das bedeutet vor allem, dass wir der individuellen Förderung in unserem Schulsystem Priorität geben müssen. Eine stärkere individuelle Förderung – das ist die Herausforderung, vor der wir stehen, und das ist auch die Aufgabe, die wir bewältigen müssen.
Kindern möglichst früh eine solche individuelle Förderung zu ermöglichen, ihnen damit bessere Bildungschancen zu eröffnen, das ist das Ziel, das die Bundesregierung mit dem Programm „Zukunft Bildung und Betreuung“ verfolgt.

Der Bund unterstützt die Städte, Gemeinden und Länder mit vier Milliarden Euro, damit ein flächendeckendes Netz von Ganztagsschulen entsteht. Darüber hinaus investieren wir zusätzlich noch einmal rund 2,5 Milliarden Euro, um die frühkindliche Erziehung und Betreuung deutlich zu verbessern.

Die Länder finanzieren das Personal, sie entscheiden auch, welche Schulen an diesem Programm teilnehmen.
Beide gemeinsam, Bund und Länder, wollen dieses Programm nutzen als ein Schulentwicklungsprogramm.
Es ist das größte Schulentwicklungsprogramm, das es in Deutschland bundesweit je gab, und als solches wird es auch von den Eltern, von den Schulen und von den Schülerinnen und Schülern genutzt. Vor allem aber ist es eine Riesenchance für unsere Kinder! Denn Ganztagsschulen schaffen bessere Voraussetzungen für eine neue Qualität des Unterrichts und mehr individuelle Förderung.

Durch eine Pädagogik der Vielfalt, die verschiedene Lernwege zulässt und unterschiedliche
Lernvoraussetzungen berücksichtigt, werden Begabungen früh gefördert und Benachteiligungen rechtzeitig vermieden.

Schülerinnen und Schüler erhalten in der Ganztagsschule neben einer soliden Basis an Grundfertigkeiten wie Lesen, Rechnen und Schreiben weitere Fähigkeiten wie selbstständiges Lernen, vernetztes Denken, Ausdrucksfähigkeit und soziale Kompetenzen. In Ganztagsschulen haben Kinder und Jugendliche mehr Zeit, um sich selbst neues Wissen zu erschließen und das Erlernte aktiv-handelnd anzuwenden.
Die Schülerinnen und Schüler erfahren, wie Theorie und Praxis zusammenhängen – in der Theater-AG, bei der Erkundung eines Flusses oder beim Besuch des Handwerksbetriebes. Mit diesen neuen Formen von Unterricht, die sich nicht nur darauf beschränken, Wissen zu präsentieren, sondern dazu befähigen, sich Wissen aktiv zu erschließen und es anzuwenden, werden Kinder auf das vorbereitet, was sie in ihrem späteren Leben leisten müssen und was immer wieder von ihnen gefordert wird. Sie lernen, Fragen zu stellen und selbstständig nach Antworten zu suchen.

Dazu kommt, was an vielen Orten in vielen Schulen spürbar ist, dass Kinder durch das Angebot einer Ganztagsschule mehr und stärker lernen, Verantwortung zu übernehmen für sich selbst, für ihren eigenen Lernprozess, aber auch Verantwortung für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Das ist eine der wichtigen bildungspolitischen Zielsetzungen, die wir verfolgen. Spürbar ist außerdem, dass es ein Vorurteil ist, wenn immer wieder gesagt wird, dass sich Eltern weniger am schulischen Leben beteiligen.

Ganz im Gegenteil: Eltern engagieren sich stark für ihre Ganztagsschule. Sie engagieren sich, sie wollen mitmachen und mitgestalten können. Und deshalb ist die Ganztagsschule ein ganz wichtiger Schritt hin zu einer stärkeren Kooperation zwischen Eltern und der Schule. Die Veränderungen des Unterrichts bringen für viele Lehrerinnen und Lehrer nicht nur andere Arbeitszeiten, sondern auch eine neue Rolle. Über ihre Fachkompetenz hinaus sind besonderes persönliches Engagement und diverse Zusatzqualifikationen gefragt. Wer sich darauf einlässt, wird häufig mit einem größeren pädagogischen Handlungsspielraum, neuen Erfahrungen und einem besseren Kontakt zu den Schülerinnen und Schülern belohnt. Unterstützung gibt es dabei durch qualifizierte Fachkräfte mit vielfältigen Erfahrungen: Schulleitung, Fachlehrer, Pädagogen und außerschulische Experten verstehen sich als Team, Bildung ist Gemeinschaftsaufgabe!

Vor etwa einem Jahr – ich habe daran erinnert –- war hier in Berlin die Startkonferenz zum Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“. Im Laufe dieses Jahres ist viel geschehen. Für dieses Jahr haben die Länder bereits einen Ausbaubedarf für rund 3.000 Schulen gemeldet. Das bedeutet, dass das Programm engagiert aufgegriffen wird. Nach den vorliegenden Zahlen aus den Ländermeldungen werden durch das Ganztagsschulprogramm des Bundes bis zum Ende dieses Jahres rund 500.000 neue Ganztagsplätze in rund 3.200 Schulen entstehen. Man kann kurz sagen, dass das Geld, das wir in dieses Programm investiert haben, gut angelegt ist. Ich wünsche mir, dass es uns in Deutschland endlich gelingt, die Bedeutung von Bildung nicht nur zu beschwören, sondern auch umzusetzen, so wie es uns mit diesem Programm gelungen ist. Es muss uns endlich auch gelingen, den notwendigen Paradigmenwechsel bei der Festlegung der Finanzierungsprioritäten zu schaffen. Kürzungen bei den Bildungsausgaben sind der falsche Weg. Bildungsausgaben müssen in unserem Land erhöht werden.

Deshalb sage ich auch ganz klar, niemand wird sich vor der Frage drücken können, ob wir wirklich Bildung an die erste Stelle setzen wollen; ob wir wirklich bereit sind, den größten Subventionsposten im Bundeshaushalt zu streichen – die Eigenheimzulage – und dieses Geld, das sind immerhin sechs bis sieben Milliarden Euro, für Bildung zu investieren. Das ist der Lackmustest für alle, hier entscheidet sich, ob es uns ernst ist, ob wir der Bildung wirklich Priorität geben. Ich sage ausdrücklich, das ist keine Frage von Bund und Ländern und keine Frage von Parteien. Wir alle miteinander profitieren davon.

Am meisten profitieren die Kinder, aber auch diejenigen, die in den Schulen arbeiten und diejenigen, die politische Verantwortung tragen. Deshalb wünsche ich mir, dass in dieser Frage nicht Parteitaktik das Entscheidende ist, sondern der Wille, Kindern in unserem Land bessere Bildungschancen zu eröffnen. Wir brauchen diesen Willen in unserem Land und die Bereitschaft vieler mitzumachen.

Das Investitionsprogramm des Bundes war für viele Schulen eine wichtige Initialzündung und der Beginn eines neuen Selbstverständnisses. Ich will noch einmal sagen, dass wir die aktive Unterstützung vieler brauchen. Wir brauchen das Engagement und die Kreativität, damit die Ganztagsschule zu einer lebendigen Schule wird, an der mit Freude und mit Erfolg gelernt wird. Wir brauchen vor allen Dingen in unserem Land das Bewusstsein und den Optimismus, dass wir das auch schaffen können.

Dass wir gemeinsam gut genug sind, die Herausforderung zu bestehen. Wenn das gelingt, wird nicht nur die einzelne Schule Erfolg haben, sondern wir werden alle insgesamt erfolgreich sein.
Ich hoffe daher sehr, dass wir uns im nächsten Jahr wieder sehen, um uns über Ihre Erfahrungen und Fortschritte bei der gemeinsamen Aufgabe, Kindern gute Bildungschancen zu geben, auszutauschen.

Vielen Dank!